Nicht jede Erinnerung steigt subtil mit einem Hauch von Lindenblütentee herauf. Bei Louis Begleys neuem Roman liefert ein rabiater Holzhammer Erinnerungen an eine Ehe.
von KARIN BÜRGENER
Ein Abend in der Oper. In einer Stadt, in der es nie ganz dunkel wird, begegnet sich ein Paar wieder, dass sich schon lange aus den Augen verloren hat. So könnte eine romantische Allerweltsliebesgeschichte beginnen – Philip und Lucy haben jedoch nicht nur die Blüte der Jugend, sondern auch den Zenit des Lebens schon längst hinter sich. Die Illusion einer Zukunft erscheint noch nicht einmal vage, zudem hat sich die schöne, charmante, unvergleichliche Lucy in eine alte Giftspritze verwandelt. Philip lässt sich trotzdem darauf ein, sie immer wieder zu treffen – und muss erkennen, dass sie sich ihre Vergangenheit ganz nach Wunsch konstruiert. Da kommt es ganz gelegen, dass die Hauptperson ihrer Verleumdungen tot ist und sich nicht mehr wehren kann – ihr verhasster Ex-Mann.
Die neue Sicht auf altes Geld
Zwischen Cocktails, kaltem Huhn und französischen Restaurants steigt das Amerika der 50er, 60er und 70er Jahre auf – es ist das Amerika der guten Gesellschaft, des alten Geldes und der ganz speziellen Geheimnisse, wie wir sie schon aus Scott Fitzgeralds The Great Gatsby kennen. Auch Thomas Snow, Lucys Ex-Mann, wirkt wie eine spätere Gatsby-Variante. Aus einfachsten Verhältnissen arbeitet er sich als fleißiger Student und später an der Wall Street nach oben, wobei ihm Lucys Kontakte nicht gerade schädlich sind. Genau das wirft sie ihm nach dem Scheitern der Ehe vor – dass er sich auf ihre Kosten bereichert habe, sowohl, was die Finanzen angeht als auch die gesellschaftlichen Kontakte betreffend. Dies ist zumindest die Version, die Lucy ihrem alten Freund Philip zwischen einigen Highballs erzählt. Ihn lässt diese Geschichte nicht los, er will mehr wissen – weil er Lucy nicht glauben kann, dass sein alter Freund Thomas tatsächlich so ein Hallodri war. Er forscht bei anderen Bekannten nach und erfährt, dass Lucy Thomas nie wirklich mochte und ihn vor allem geheiratet hat, um sich von einer enttäuschenden Affäre zu erholen. Warum erfindet sie also wilde Lügengeschichten? Nun, irgendwie muss man sich die Einsamkeit schließlich vertreiben.
Zwei Versionen des Lebensabends
So weit, so ernüchternd. Diese traurige und auch ziemlich banale Geschichte liest sich jedoch gar nicht so traurig und banal, sondern ist amüsant und unterhaltsam – Spannung entsteht vor allem dadurch, dass der Leser lange im Unklaren darüber gelassen wird, was sich in den wilden 70ern tatsächlich ereignet hat. Die Wahrheit rekonstruiert sich nur ganz allmählich, auf verschlungenen Pfaden, durch die uns der Erzähler Philip hindurchlotst. Auch dieser erinnert an die Erzählerfigur Nick Carraway aus The Great Gatsby. Vor allem seine Funktion als Medium, das ein Hervorquellen der Erinnerung auslöst, macht die Ähnlichkeit frappierend – und auch die Tatsache, dass er den Wirrnissen um ihn herum keine Wertung entgegenbringt. Im Gegenteil: Wo Kritik oder Intervention gefragt wäre, schweigt er lieber, um niemanden vor den Kopf zu stoßen und vor allem deshalb, weil er weiterhin Ohrenzeuge ihrer Geschichten bleiben will. Denn schließlich ist er Schriftsteller und ständig auf der Suche nach neuem Material, das er am liebsten aus den Erlebnissen seiner Mitmenschen generiert. Die ausschließlich über ihn fokalisierte Geschichte gewinnt durch eigene Erinnerungen an Kontrasten, so blickt er schließlich auf eine liebevolle, erfüllte Partnerschaft zurück. Im Gegensatz zu Lucy kann er in die Vergangenheit blicken, ohne in ein finsteres Loch zu schauen, und ist in der Lage, seinen Lebensabend in Würde, Liebe und alter Freundschaft zu verbringen.
Begley liefert uns zu seinem 80. Geburtstag zwei Antworten auf die Frage, wie das Alter aussehen könnte. Die eine ist ziemlich beängstigend – die andere fast zu entspannt, um wahr zu sein. Es ist jedenfalls ein Finale, das sich deutlich von dem traurigen Ende Jay Gatsbys unterscheidet.
Ich hatte das Glück Louis Begly vor Jahren mal auf einer Lesung live erlebt zu haben. Er ist ein großartiger und sehr interessanter Mensch, dem ich gerne zugehört habe. Nur gelesen habe ich bisher noch nichts von ihm, aber “Erinnerungen an eine Ehe” liegt hier bereits und wartet darauf gelesen zu werden. 🙂