Bist doch du, der hier fehlt. Zum Tode Peter Kurzecks

Peter Kurzeck bei einer Lesung 2008 Foto: Wikimedia User DontworryDa schreibt einer und erzählt. Immer weiter. Schreibt wie gesprochen, spricht wie geschrieben. Gegen das Vergessen, gegen das Vergehen, gegen den Tod, gegen die Zeit – und muss sich dann doch geschlagen geben. Am 25. November 2013 verstarb Peter Kurzeck im Alter von 70 Jahren.

von KATJA PAPIOREK

In der facebook-Gruppe zu Peter Kurzeck postet jemand einen Punkt. Einen einzelnen Punkt. Wenig später ist klar, es ist ein Schlusspunkt. Ein Lebensendpunkt. Ein Todes(zeit)punkt. Sofort fällt mir der Moment ein, in dem das Erzähler-Ich in Ein Kirschkern im März (2004) müde vom Einkaufen heimkommt und auf dem Sofa eine Zeitung entdeckt. Aufgeschlagen ist die Nachricht vom Tode Uwe Johnsons. „Erst Arno Schmidt – schon sein Tod: das hätte nicht sein dürfen! Von Rechts wegen! Und jetzt auch noch Uwe Johnson! Wie sollst du dir jetzt auch noch den ersetzen?“ Und wie sollen wir uns Peter Kurzeck ersetzen? Jetzt einfach facebook schließen, am besten sogar den Computer herunterfahren, wenn „wir nur erst von ihm sprechen, wird sein Tod vielleicht doch sich als Irrtum, sagst du dir.“

Peter Kurzeck wird am 10. Juni 1943 in Böhmen geboren. Er wächst als Flüchtlingskind in Staufenberg im Kreis Gießen auf. Der frühe Heimatverlust und die damit einhergehende Suche nach der eigenen Identität werden zu einem zentralen Bestandteil und vermutlich auch Motivator seines Werkes. Eines Tages beschließt er also, Schriftsteller zu werden oder besser: zu sein. Er kündigt seinen Job und widmet sich ganz dem Erzählen. Als 1979 sein Debütroman Der Nußbaum gegenüber vom Laden in dem du dein Brot kaufst. Die Idylle wird bald ein Ende haben! erscheint, lebt Kurzeck bereits seit zwei Jahren in Frankfurt. Ab den 1990er Jahren pendelt er dann zwischen Frankfurt und Uzès in Südfrankreich.

Atemloses Erzählen

Staufenberg, Gießen und Frankfurt sind auch die Handlungsorte seiner Texte. Darin erzählt Kurzeck das Dorf, die Gegend, die Menschen, sich selbst und immer wieder die Zeit – ein Vorhaben, das von Beginn an zum Scheitern verurteilt ist, weil die Zeit auch beim Schreiben nicht stillzustehen vermag. Ebenso wenig steht der Erzähler still: Immer ist er unterwegs, läuft durch die Straßen, die Stadt, das Dorf; muss überprüfen, ob alles noch so ist, wie er es im Gedächtnis hat; muss sich dabei immer alle anderen Male in Erinnerung rufen, die er hier entlanggegangen ist, und was er da erzählt, gesehen, gedacht. So verschränken sich verschiedene Zeitebenen und Räume miteinander. Und dann fängt er einfach nochmal von vorne an, unternimmt einen neuen Versuch sich der „seinerzeitigen Gegenwart“ anzunähern. Schreiben und Erzählen ohne Ende.

35 Jahre lang erzählt Kurzeck die Zeit, von Kritikern gelobt, gar als „deutscher Proust“ bezeichnet, aber von der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt. Dabei hat Kurzeck eine ganz eigene Stimme, einen typischen „Kurzeck-Sound“ entwickelt. Er schreibt in kurzen, knappen Sätzen, denen oft die Verben fehlen. Seine Sprache erinnert häufig an mündliches Erzählen, vor allem dann, wenn sich der Erzähler mit seiner kleinen Tochter Carina unterhält oder wenn einzelne Passagen im (oberhessischen) Dialekt verfasst sind. Manchmal wirken die Sätze fast atemlos und gehetzt – es fehlt eben die Zeit. Einzelne Fragmente tauchen in verschiedenen Texten auf, wie etwa: „Die Gegenwart, das ist doch nicht einfach nur jetzt […].“ Oder „Bin doch ich, der hier geht.“

Verknüpft sind die einzelnen Texte auf ganz unterschiedliche Weise. So tauchen etwa gleich mehrfach Motive wie der Kirschkern auf und dem Erzähler (und Leser) begegnen häufig Figuren aus früheren Texten („[…] ich habe anderswo schon über ihn geschrieben, das ist jetzt, als ob man einen alten Bekannten trifft.“). Immer wieder wird der Schreibprozess thematisiert und somit auch die Entstehung der vorangegangenen Texte, während die Titel der einzelnen Romane schon an prägnanten Stellen früherer Texte genannt wurden.

Neue Zeitrechnung

Das Ausufernde und die Unabschließbarkeit von Kurzecks Schreiben werden spätestens mit dem Roman Kein Frühling deutlich. Mit der Veröffentlichung 1987 ist der Text für ihn längst nicht beendet, sodass der Roman zwanzig Jahre später in einer um zwölf Kapitel erweiterten Auflage neu herausgegeben wird. Es folgen weitere Romane und Erzählungen. Als einige davon 1991 in dem Band Mein Bahnhofsviertel veröffentlicht werden sollen, will Peter Kurzeck dafür ein Nachwort verfassen. Doch erneut findet er kein Ende. Aus den geplanten Zeilen entwickelt sich das Mammutprojekt Das alte Jahrhundert, eine auf insgesamt zwölf Bände angelegte Chronik. 1997 erscheint mit Übers Eis der erste Band. Erzählt wird hier und in den folgenden zwei Bänden, Als Gast (2003) und Ein Kirschkern im März (2004), von einer „neuen Zeitrechnung“, die einsetzt mit der Trennung des Erzählers von seiner Frau. Dabei werden – weitestgehend chronologisch – die Ereignisse zwischen dem Winter 1983 und dem Frühjahr 1984 erzählt. Durchaus überraschend setzt der vierte Band Oktober und wer wir selbst sind dann wieder im Oktober 1983 ein – also noch vor der Trennung, die als solche aber ausgespart und eben nicht erzählt wird. Hier kommt es unter anderem zu einem Telefonat zwischen dem Erzähler und seinem Freund Jürgen, in dessen Verlauf sich Ersterer an den etwa ein Jahr zurückliegenden Abschied erinnert.

Als 2011 mit Vorabend der fünfte – und wie nun zu befürchten ist letzte – Band der Chronik erscheint, behauptet Peter Kurzeck, der fast 1000-seitige Roman sei aus eben jenem Nebensatz des Vorgängerbandes entstanden. Folgerichtig erzählt der Text dann auch vom Vorabend des Abschieds im Jahr 1982, greift aber in Form einer groß angelegten Geschichte des Erzählers bis in die 1950er Jahre in Staufenberg zurück. Dass seine Zuhörer währenddessen eine ganze Packung Madeleines verputzen, ist sicher kein Zufall.

Es bleibt zu hoffen, dass der Schriftsteller Andreas Maier mit seinen in einem Gespräch mit dem Deutschlandradio geäußerten Vermutungen Recht behält, und die verbleibenden sieben Bände der Chronik Das alte Jahrhundert in Uzès nur darauf warten, gesichtet und geordnet zu werden. Auch wenn das sicher keine leichte Aufgabe wird, musste doch schon das Manuskript zu Vorabend von Kurzeck selbst diktiert werden, weil nur er selbst seine Handschrift entziffern konnte.

Jedenfalls könnten wir dem einzelnen Punkt so noch zwei weitere hinzufügen. Damit es weitergeht, Kurzeck noch lange weitererzählt. „Du kannst dir gern Zeit lassen jetzt.“

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