Die historischen Traumata des 20. Jahrhunderts sind die Themen, um die Claude Simons Romane kreisen und für die er 1985 den Nobelpreis verliehen bekam. Doch wie bekannt sind diese nicht leicht lesbaren Texte? Archipel / Nord, eine Auswahl von Prosaskizzen, bietet nun die Gelegenheit, diesen Autor (wieder-) zu entdecken.
von KAI FISCHER
Zwar wurden mit den Romanen Die Straße in Flandern (Les Route des Flanders, 1960) und Die Schlacht bei Pharsalos (La bataille de Pharsale, 1969) zwei Hauptwerke des französischen Schriftstellers Claude Simon bereits früh in deutscher Übersetzung veröffentlicht, doch wird man eine Kenntnis oder gar Vertrautheit wohl nur bei professionellen Lesern – Literaturkritikern, vor allem aber Romanisten – und wenigen Enthusiasten annehmen dürfen. Im Verlag Matthes & Seitz ist mit Archipel / Nord nun eine Auswahl kurzer Prosatexte und Photos Simons erschienen und es drängt sich die Frage auf, für wen der schmale, mit einem instruktiven Vorwort der Schriftstellerin Brigitte Burmeister und hilfreichen Anmerkungen ausgestattete Band gedacht ist.
Entwicklung des Werks
Leser, die beruflich mit Simons Werk zu tun haben, werden die hier erstmals in Übersetzung vorliegenden Texte aus den jährlich erscheinenden Cahiers Claude Simon höchstwahrscheinlich kennen. Allenfalls die abgedruckten Photos könnten für einen Vollständigkeitssammler von Interesse sein, da sie aus dem lange vergriffenen Band Photographies 1937–1970 stammen. Es bleibt dem Buch also der interessierte Leser, der bislang nichts oder nur wenig mit dem Namen Claude Simon verbinden konnte, und dem Brigitte Burmeister bei der Annäherung zur Seite steht. Die ausgewählten Texte vermittelten nämlich „einen Eindruck vom Entwicklungsbogen in Simons Schaffen wie auch vom Spektrum seiner Themen und Sprachformen.“ (S. 22) Insbesondere die Entwicklung Letzterer wird in dem Band nachvollziehbar dokumentiert: Die ersten drei Texte – Kandidat, Asche und Wort für Wort – zeigen bereits die für Simon typische sprachliche Beschreibungsdichte mit minimaler erzählerischer Progression, wobei die Syntax allerdings noch unangetastet bleibt. Mit Wie verdünntes Blut setzt dann die fortschreitende Fragmentierung herkömmlicher Satz- und Textstrukturen ein, die zum formalen Kennzeichen seiner Romane wird. Stellenweise verzichtet Simon auf Interpunktion oder sie gehorcht semantischen und rhythmischen Vorgaben und nicht grammatischen Regeln. Zusammenhänge zwischen Textelementen müssen vom Leser hergestellt werden, um überhaupt zu so etwas wie einer Handlung zu gelangen. Besonders der Versuch des Ordnens von Notizen, die, wie der Untertitel angibt, während einer Reise nach Zeeland angefertigt und ergänzt wurden, stellt einen markanten Bruch mit den vorangegangenen Texten dar. Abschnitte bestehen zum Teil aus einzelnen unvollständigen Sätzen, wie etwa „offenes Meer dort hinten wo sie beginnen ihren Kurs zu nehmen“ (S. 83), und wechseln sich ab mit mehrzeiligen Passagen, die einen komprimierten visuellen Eindruck beschreiben: „majestätisch auf dem horizontalen Streifen graugrünen Wassers hinter und über dem ganz in Himbeerrot gestrichenen Deich weiße Aufbauten ebenfalls himbeerroter Schornstein mit weißem Sigel auf dem gallefarbenen Fluß“ (S. 86).
Biographie als Stoff
Zudem offenbart dieser Text ein zentrales thematisches Element im Werk Simons. Indem Familienzeugnisse integriert werden, wird ein Bezug zur Biographie des Autors hergestellt, die auch für die zahlreichen Romane konstitutiv ist, thematisieren sie doch die Erfahrungen, die Simon als Soldat und Kriegsgefangener während des Zweiten Weltkriegs gemacht hat. Offensichtlich verfolgt Simon mit seinen Texten jedoch kein realistisches Programm, oder anders formuliert, er versucht eben nicht eine Form des Realismus zu etablieren, die nicht auf die Nachahmung von Realität abzielt. Vielmehr ist er bestrebt, die Wahrnehmung und Erinnerung von Wirklichkeit sprachlich zu repräsentieren. In diesem Kontext steht auch der letzte Text des Bandes zu Photographie und Literatur. Der Status der Photographie, so legt der Text nahe, sei, genauso wie derjenige der Literatur, ambivalent. Zwar könne ein Photo etwas festhalten, „das an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt stattgefunden“ habe, doch besitze es „eine eigene Existenz, unabhängig von jeglicher memorierenden oder bewahrenden Funktion“ (S. 157). Es ist dieses Changieren zwischen referentieller und „magischer“ Dimension, zwischen denen ein „Zustand des Gleichgewichts“ (S. 159) hergestellt werden müsse, und die sowohl die Photographie als auch die Literatur kennzeichne. Simons Auffassung von der „magischen Macht“ der Photographie erweist sich als anschlussfähig an die französische phototheoretische Diskussion, die vor allem mit dem Namen Roland Barthes’ verknüpft ist.
Lohnt es sich demnach, dieses Buch zu lesen? Als Einstieg in das Romanwerk Simons ist der Band sicherlich sehr geeignet, vermittelt er dem Leser doch einen ersten Eindruck der textuellen Strategien, die zum Einsatz kommen. Damit ist allerdings auch klar, dass es sich bei Archipel / Nord nicht um eine, schon gar nicht eine einfache, Bettlektüre handelt.