Irgendetwas läuft schief in dieser Welt, der Umgangston verroht. Dieses Gefühl holt in gegenwärtigen Zeiten jeden irgendwann ein. Der Mensch muss nicht einmal einen Fuß aus seinen heiligen vier Wänden setzen: Es reicht, einfach die Glotze anzuschmeißen. Es wird gepöbelt, gekeift, gehauen. Und alle schauen zu. Thomas Mießgang versucht in Die Kultur der Unhöflichkeit, das Symptom dieser Entwicklung und seine Ursprünge zu analysieren. Dabei gelingt ihm ein Rundumschlag, der aufzeigt, welche Mechanismen der modernen Welt die unhöfliche Mentalität fördern.
von JAN FREDERIK BOSSEK
Retten Sie sich! Die Situation ist kritisch. Alles ist verpestet durch den Virus Unhöflichkeit, und die ersten Zombies wandeln schon durch die Städte und Dörfer. Hüten Sie sich vor Fehlern im Straßenverkehr, denn Sie könnten Opfer eines „road rage“ werden, bei dem die wütenden Zombies aus ihrem Fahrzeug steigen und Ihr Automobil mit einem Golfschläger zertrümmern. Am Arbeitsplatz könnten Sie von ihnen gemobbt werden und müssten dabei zusehen, wie deren Ellenbogentaktik sie beruflich weiter bringt, während Sie an Ihrem Arbeitsplatz versauern. Oder Sie werden Opfer eines Shitstorms, bei dem jeder Zombie, der etwas auf sich hält, etwas in sein Keyboard hackt und Sie kaputt twittert. Doch wenn sie sich geschlagen geben und den Fernseher anschalten, wird es nicht besser. Im Fernsehen können Sie die Zombies beobachten, die ihre eigenen Privatsender gegründet haben und sich gegenseitig tot-casten oder die sich in den politischen Kabinetten gegenseitig die Köpfe einschlagen.
Zugegeben, es mutet womöglich etwas schlimmer an, als es sich in jedermanns Alltag letztendlich darstellt. Dennoch gibt es das schleichende Eindringen der Unhöflichkeit als Umgangsform, das sich abhebt von der generationenübergreifenden Phrase „früher war alles besser“, in allen Gesellschaftssektoren. Mießgang zeichnet die Geschichte der Unhöflichkeit nach und hält die Ausgangspunkte der heutigen Situation in seinem informativen sowie unterhaltenden Buch fest. Damit schafft er in fünf in sich geschlossenen Essays ein literarisches Panorama über die Auswirkungen von bestimmten modernen Erscheinungsformen, etwa den Medien, der aktuellen Politik, aber auch Prozessen wie der Überbevölkerung der Erde, auf die Gesellschaft.
„Es ist geil ein Arschloch zu sein“
Erinnert sich noch jemand an Christian aus dem Big Brother-Container? Ausgerechnet (oder logischerweise?) der Big Brother-Insasse besang mit seinem auditiven Kurz-Opus „Es ist geil ein Arschloch zu sein“ eine soziale Umgangsart, die sich in den Folgejahren vor allem in der Person Dieter Bohlen bei Formaten wie Deutschland sucht den Superstar im Fernsehen durchsetzen sollte. Dem Kollegen Bohlen und Konsorten widmet der Autor ein ganzes Kapitel. Doch anstatt den Fokus nur auf das Benehmen, beziehungsweise Nicht-Benehmen der Protagonisten des sogenannten „Unterschichtenfernsehens“ zu legen, verfolgt Mießgang eine umfassendere Herangehensweise. So wendet sich seine Argumentation auch an die, die dem medialen Treiben nur zuschauen: Ist nicht das Agieren der Menschen im Publikum, die einem Phänomen wie Bohlen applaudieren und hinter dessen Aussagen stehen, noch viel zweifelhafter? Unterstütze ich als Zuschauer die Verrohung des sozialen Miteinanders? Letztendlich gibt uns das Fernsehen doch das, was wir sehen wollen. Sind wir nicht selbst längst unhöflich geworden? Hierin liegt eine Stärke des Textes, denn der Autor schlägt sich nicht auf eine Seite und kritisiert die andere. Alle sind angesprochen.
There’s a riot goin’ on
Die vielschichtige Perspektive Mießgangs äußert sich auch in seiner Betrachtung der positiven Seite der Unhöflichkeit als Mittel des politischen Klassenkampfes. In Zeiten politischer Umbrüche ist und war sie notwendig, um soziale Grenzen zu sprengen und Minderheiten durch unkonformes Auftreten eine Stimme zu verschaffen. Durch Unhöflichkeit gegenüber Autoritäten setzte zum Beispiel die 68er-Bewegung Akzente, die man bis in die heutige Generation nachverfolgen kann. Ein Kapitel widmet sich dem nicht zu unterschätzenden Einfluss der Rockidole von The Who bis zu den Riot Grrrls. Hier wird auch zum Teil ein Dilemma offenbar, denn besagte KünstlerInnen und ihre Gefolgschaft kämpften gegen teils menschenverachtende Werte von Institutionen wie Kirche oder Politik, die aber gleichzeitig versuchten, Werte wie die Höflichkeit aufrechtzuerhalten. Nach der Rezession deren Einflusses hat der Mensch die Möglichkeit erhalten, zügelloser zu agieren, was sowohl positive als auch negative Folgen hat. Das heißt aber nicht, dass Mießgang sich das autoritäre Wertediktat herbeisehnt, er zeigt diese Entwicklungen lediglich auf.
Reflektor
Mießgang versteht es, in eloquenter und amüsanter Sprache Sachverhalte darzustellen, bei denen dem Leser eigentlich vor Ernsthaftigkeit des Sujets das Lachen vergehen müsste. Damit erzielt er eine doppelte Wirkung. Einerseits erweckt der Autor ein Gefühl der Genugtuung, wenn er die stumpfe Unhöflichkeit von Politikern wie Berlusconi herausstellt, wobei man sich als Leser auf der guten Seite der Etikette wähnen kann. Andererseits kann man aufgrund der herausgearbeiteten Aspekte des alltäglichen Lebens schon mal über die eigene Abscheulichkeit und die Grausamkeit der Welt verzweifeln. Die Kultur der Unhöflichkeit birgt das Potenzial, einen Reflexionsprozess des eigenen Handelns anzuregen. What the world needs now? Mehr love, sweet love. Vielleicht verschwinden dann auch die Zombies irgendwann.
Toller Hinweis auf ein sehr interessantes Buch, das gleich auf meine Liste wandert!
Viele Grüße, Claudia
Hat dies auf [Der Mann für den Text] rebloggt.