Zum hundertjährigen Geburtstag des algerischen Denkers und Autors Albert Camus liefert Iris Radisch einen feinfühligen Einblick in sein Leben. Dabei konzentriert sie sich auf das von Camus stets verfolgte Ideal der Einfachheit, das eng geknüpft ist an sein mittelmeerisches Denken, der „pensée de midi“.
von ESRA CANPALAT
Mit einer kargen und tristen Version der Weihnachtsgeschichte lässt Radisch ihre Biographie über Albert Camus beginnen: „Das Paar auf dem Pferdewagen hat es eilig, die Frau liegt in den Wehen. Sie halten bei einem Gut in einem winzigen Dorf. In einer Küche wird eine Matratze neben einer Feuerstelle auf den Boden gelegt. Ein Geruch von Verwahrlosung und Elend hängt in der Luft.“ Was auf den ersten Blick als eine übertriebene Dramatisierung wirken mag, ist auf Camus’ eigene Beschreibung seiner Geburt in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit und seine literarische Autobiographie Der erste Mensch gemünzt. Camus’ Dichtung, so Radisch, weise trotz der Verschwiegenheit und der wenigen Bekenntnisse des Dichters immer eine Verbindung zu seinem Leben vor. Diesem Aspekt ist auch der Epilog gewidmet, beim gemeinsamen Treffen mit der Tochter Camus’, Catherine, in Lourmarin, dem Ort, den Camus zuletzt als Rückzugsort favorisierte, wird Letzterer von Radisch zitiert: „Mein Werk wird von meinem Leben gemacht werden und nicht umgekehrt.“ Radisch teilt deshalb die Biographie nach den zehn Lieblingswörtern Camus’ ein: Die Mutter, der Sommer, der Schmerz, das Meer, das Elend, die Welt, die Ehre, die Menschen, die Erde, die Wüste. Dies seien die magischen Wörter, die eine Verknüpfung zwischen seinem Werk und seinem Leben herstellen würden.
Das Licht der Kindheit
Radisch erzählt von den Anfängen Camus’ literarischer Karriere in Algier, der ansteigenden Aufmerksamkeit für seinen Roman Der Fremde und dem philosophischen Essay Der Mythos des Sisyphos in Frankreich sowie dem Abstieg in den Pariser Intellektuellenkreisen um Jean-Paul Sartre, die ihn so schnell wieder fallen ließen wie sie ihn zunächst als König des Absurden aufgenommen hatten. Trotz des ansteigenden Erfolgs seiner Bücher in Frankreich ist es immer das Licht und die Wärme seiner algerischen, schweigsamen Kindertage nach denen Camus sich sehnt. Das mittelmeerische Denken, das zurückgehe auf das antike Griechenland, ist das von ihm auserkorene Ideal, dem sich seiner Ansicht nach Europa wieder zuwenden müsse: Die eroberungswütige Tendenz Westeuropas, die aus der spätrömischen Zeit übernommen worden sei, müsse durch „die Interessenlosigkeit am Lauf der Welt, das friedfertige Nebeneinander, die Willenlosigkeit, die Gleichheit, die Einfachheit und die Freude an der reinen Gegenwart“ abgeschafft werden. Dieses mittelmeerische Denken spiegelt sich nicht nur in den Reden und im philosophischen Vermächtnis Camus’ wider, sondern ist auch motivisch in seinen literarischen Werken Licht und Schatten und Hochzeit des Lichts zu finden, in denen er die verlorene Armut seiner lichtdurchfluteten Kindheitstage heraufbeschwört. Diese Mentalität führt zu seinem Ausschluss aus dem Kreis der Existentialisten. Sartre zerreißt seinen Essay Der Mensch in der Revolte, das bis heute, besonders durch diesen Verriss, am meisten missverstandene Werk Camus’. Die anderen Kritiker tun es ihm nach. Denn Camus greift mit diesem Essay die Legitimation der französischen Intellektuellenelite an: Er prangert den Hochmut der europäischen Intellektuellen und die hegelianische Geschichtsphilosophie an, durch die Gewaltakte in der europäischen Geschichte legitimiert worden seien. Am Ende, so ist sich Radisch sicher, hat Camus mit seiner Kritik am modernen Europa Recht behalten: „Seine Kritik des Totalitarismus hat sich als eine der hellsichtigsten Gegenwartsanalysen des 20. Jahrhunderts erwiesen.“ Mit dem Abgesang auf die anmaßenden europäischen Denker der Moderne distanziert sich Camus von seinem eigenen Nihilismus, der sich in seinem bisherigen Werk manifestiert hat, und widmet sich von da an seinem Ideal der Einfachheit.
Zwischen zwei unvereinbaren Leben
In Lourmarin, einer französischen Gemeinde in der Provence, versucht Camus die verlorene Armut wiederzufinden und mit der literarisierten Autobiographie Der erste Mensch einen Neuanfang zu starten. Ohne den Pomp eines Marcel Proust erzählt er in einer nüchternen und reduzierten Sprache vom Leben eines gewissen Jacques Comery und schreibt: „Die verlorene Zeit wird nur bei den Reichen wiedergefunden.“ Gerade in dem Augenblick, in dem Camus sich von seinem alten Leben abwendet und einen neuen Stil findet, stirbt er am 4. Januar 1960 bei einem Autounfall. Dass das Auto ausgerechnet auf dem Weg von Lourmarin nach Paris zerschellt, ist für Radisch bezeichnend: Camus stirbt wortwörtlich zwischen den beiden unvereinbaren Leben – der sonnenbeschienen Einfachheit und der großstädtischen Melancholie.
Iris Radischs ausführliche Biographie ist in jedem Fall empfehlenswert, weil sie es schafft einen Bogen zwischen dem komplexen Menschen Camus und seinem literarischen Schaffen zu spannen, ohne dabei in die altbewährte Falle der Gleichsetzung von Autor und Werk zu tappen. Indem sie seine zehn Lieblingswörter als Leitfaden benutzt, gelingt es ihr, dem Leser die facettenreiche Persönlichkeit Camus’ auf empathische Weise zu vermitteln.