„Ein letzter Triumph des Geistes über das Gemüse“

Wolfgang Herrndorf – Arbeit und Struktur   Cover: RowohltParadox für den Leser: Arbeit und Struktur von Wolfgang Herrndorf ist ein bewegender und innovativer Text – von dem man sich wünscht, der Autor hätte ihn nie verfassen müssen. Denn der Schreibanlass war die Diagnose eines unheilbaren Gehirntumors im Jahr 2010. Nach Herrndorfs Selbstmord im August des vergangenen Jahres erscheint sein Blog nun bei Rowohlt in Buchform.

 von LINA BRÜNIG

Wäre diese Geschichte ein Roman, man wäre versucht, den Plot als weit hergeholt zu bezeichnen: Ein leidlich bekannter Schriftsteller erkrankt tödlich und ist dadurch motiviert, seine ewig unvollendeten Texte fertigzustellen. Der Roman Tschick (2010) wird unvermittelt zum Bestseller, der Nachfolger Sand (2011) mit dem Preis der Leipziger Buchmesse prämiert. Um seinen Freundeskreis kontinuierlich über seinen gesundheitlichen Zustand informieren zu können, beginnt er neben der Arbeit an Manuskripten einen Blog, den er mit Arbeit und Struktur betitelt. Auf Anraten seiner Freunde macht er die Seite nach kurzer Zeit auch der Öffentlichkeit zugänglich.

Sentiment und Sachlichkeit

Ein Gehirntumor bedeutet für einen Schriftsteller das Eindringen einer fremden Größe in seinen ureigensten Bereich: den Intellekt. So ist Herrndorfs Tagebuch zu Beginn vor allem eine Selbstvergewisserung. Seine Sprache ist klar und präzise, er zerlegt seine Situation immer wieder in ihre Einzelteile, konsultiert Statistiken, durchschaut so sein eigenes Verhalten. Die rational anmutende Sachlichkeit, mit der er Herr über seine Krankheit bleibt, ist manchmal fast verstörend: Er entwickelt ein ausgeklügeltes System, mit dessen Hilfe er den Gedanken an den bevorstehenden Tod verdrängen kann. Einige Zeit schießt er mit einer imaginären Pistole auf die Angst, um unbehelligt arbeiten zu können: „Es klickt und knallt in meinem Kopf ohne mein Zutun, und der Todesgedanke taucht kaum noch an die Oberfläche, während ich von allem unbeeindruckt am Computer sitze und arbeite.“ Doch wenn er das Mitgefühl in der Stimme einer Bekannten durchklingen hört, bringt das sein „System zum Absturz“. Neben dem Verstörenden beeindruckt es auch, wie Herrndorf stets Souverän seiner Welt bleibt und scheinbar von außen auf sich und sein Schicksal blickt. Diese Erzählhaltung ist es auch, die dem Text eine besondere Stärke verleiht. Wenn Herrndorf sich kurzfristig im Besitz der Weltformel wähnt und plant, vor seinen Freunden eine große Rede zu halten, und diese Episode nachträglich im Blog zusammenfasst, ist das auch – sehr komisch. Überhaupt ist Herrndorfs böser Witz so großartig, dass der Text von Bonmots und Aphorismen übervoll ist.

Nichts und Etwas

Dieses Protokoll eines Sterbenden hält keine transzendentalen Wahrheiten bereit. Herrndorf stellt gar irgendwann fest, sich vom Atheisten zum Nihilisten gewandelt zu haben. Er glaubt nicht nur nicht an Gott, er glaubt auch nicht an die Existenz der Welt. Das hindert ihn aber nicht, das Schöne, das das diesseitige Leben für ihn trotz allem bereithält, plastisch festzuhalten: Fast leitmotivisch ziehen sich zum Beispiel Aufenthalte am Plötzensee durch den Text. Mal mit Freunden, mal allein. Mal im Sommer zum Baden, mal im Winter zum letzten Eislaufen. Noch einer der letzten Einträge, weniger als einen Monat vor seinem Tod lautet: „Im See zwei Schwimmer, einer davon ich.“

So stecken zwischen Beschreibungen von Chemotherapie, Wahnvorstellungen und Kontrollverlust immer wieder literarische Skizzen von berückender Schönheit:

„Die Zeitspanne, in der ich in die Zukunft denke, oft keine zehn Sekunden mehr, teilweise regrediert auf den Gemütszustand eines Fünfjährigen. Und nicht nur den Zustand, auch das Benehmen. Da fahre ich mit dem Fahrrad das Nordufer entlang und freue mich wie wahnsinnig über Bäume, Autos und Licht. Dann taucht am Ende der Straße eine Kreuzung auf – und dann? Oh, ein neuer Weg! Neue Bäume, neue Autos, neues Licht, welche Freude“.

Medium und Leser

Der Blog war für Herrndorf zuerst eine Möglichkeit, die Kontrolle und Deutungshoheit über sein Leben zu behalten. Solange er seine Gedanken in Worte fassen konnte, trotzte er dem Krebs wie ein bloggender Sisyphos. Doch mit der Zeit – und nachdem er weitaus länger mit dem Tumor lebte als zunächst prognostiziert – entwickelte sich Arbeit und Struktur vom Nebenbei-Projekt zu einem wahren opus magnum. Ein Werk, dessen fürchterliche Spannung für die Leser auch immer darin bestand, dass es jeden Tag vollendet sein könnte. Als dieser Tag am 26. August 2013 kam, sickerte rasch durch, dass der Blog auch in Buchform erscheinen soll. Mit Herrndorfs Tod ist er eine abgeschlossene Hinterlassenschaft von literaturhistorischer Bedeutung geworden. Die wohlbekannten Zeilen jetzt auf Papier zu lesen, verleiht ihnen eine adäquate Gravität. Und dass Arbeit und Struktur, das für jeden kostenlos im Internet zu haben ist, nun in der SPIEGEL-Bestsellerliste steht, ist eine Pointe, die dem lange Zeit „am Existenzminimum herumkrebsenden“ Herrndorf vielleicht gefallen hätte.

Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur
Rowohlt Verlag, 444 Seiten
Preis: 19,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-7818

5 Gedanken zu „„Ein letzter Triumph des Geistes über das Gemüse“

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