Trista Italia

Alessandro Baricco - Emmaus   Cover: HanserWas haben ein Selbstmörder, ein Heroinabhängiger und ein Gefängnisinsasse gemeinsam? Sie alle verfallen der gleichen Frau. Ohne Absicht bringt sie vier Freunde an den Rand eines Abgrunds, der für drei von ihnen zum Verhängnis wird. In Emmaus erzählt Alessandro Baricco von Leid und Leidenschaft der Jugend.

 von KARIN BÜRGENER

 Turin in den 1970ern – doch es könnte auch jede andere europäische Stadt sein. Nach dolce vita und Bella Italia sucht man hier vergebens. Das Leben der Bewohner dreht sich rund um Kinder, Küche und Kirche, egal, welches Alter oder Geschlecht sie haben. Im Mittelpunkt steht eine Gruppe Jugendlicher, die dieses Umfeld jedoch nicht etwa in Frage stellen, sondern sich nahtlos einfügen: „Wir sind alle sechzehn, siebzehn Jahre alt – doch das ist uns kaum bewusst, ein anderes Alter können wir uns nicht vorstellen: Von der Vergangenheit wissen wir fast nichts. Wir sind durch und durch normal, das ist der Plan, ein anderer ist nicht vorgesehen. […] Trotzdem sind wir glücklich, oder glauben zumindest, es zu sein.“ (S. 13)

Das Leben ändert sich für die vier Freunde allerdings schlagartig, als die schöne Andre wie aus dem Nichts auftaucht. Sämtlichen Frauen der Nachbarschaft ist sie ein Dorn im Auge, während die meisten Männer sie unverhohlen bewundern, lebt sie doch ihre Promiskuität freizügig und öffentlich aus. Während Bobby, Luca, Santo und der namenlose Erzähler zuvor ihre Zeit in der Gemeindeband oder bei der ehrenamtlichen Krankenpflege verbringen, beten sie die Unbekannte nun aus der Ferne an. Doch bei der Distanz bleibt es nicht lange und schnell versucht jeder von ihnen auf seine Weise, die verführerische femme fatale auf sich aufmerksam zu machen.

 Die dämonische Schönheit

Ihre Aufmerksamkeit erlangen sie auch, doch jeder muss dafür seinen ganz speziellen Preis zahlen: Luca mit seinem Leben den höchsten. Doch auch den anderen ergeht es nicht viel besser, sie landen im Gefängnis oder an der Nadel. Und der Ich-Erzähler? Der muss um seine drei besten Freunde bangen – und auch sein eigenes Schicksal und Seelenheil sind in Gefahr und er muss seine persönliche Sinnsuche ganz neu definieren.

Alessandro Baricco bedient sich in seinem neuen Roman eines der beliebtesten Motive der Literaturgeschichte: dem der dämonischen Verführerin. In Gestalt der betörenden Andre nimmt diese dämonische Schönheit Facetten an, die aber dann eher untypisch erscheinen, denn schließlich ist es keine diabolische Absicht, die sie zur Vernichterin ihrer jungen Verehrer macht. Vielmehr wohnt ihrem Charakter eine Leichtigkeit und Unbedarftheit inne, was vorm Hintergrund des konservativen Katholizismus’ jedoch schon ein Sakrileg darstellt. Alle Sünden, die sie begeht, sind vor allem bedingt durch die Verortung der Geschichte in diesem spezifischen Raum und dieser Zeit. 20 Jahre später, und kein Skandal hätte die Stadt erschüttert.

Neben Andres vermeintliche Amoralität setzt Baricco Kontrastpunkte aus intertextuellen Passagen mit religiösem Hintergrund – das Heilige und das Vulgäre liegen nur wenige Worte auseinander. So ist schon der Titel ist ein Verweis auf das Neue Testament: In Emmaus, diesem biblischen Ort bei Jerusalem, begegnen Wanderer dem auferstandenen Jesus. Doch wo erscheint der Erlöser im tristen Turin?

Italien abseits der Sonnenseite

Wer Werke von Alessandro Baricco kennt, kann sich vorstellen, dass es sich nicht um einen typischen Adoleszenz-Roman handelt. Emmaus zeigt ein Italien, wie wir es untypischer noch nie gesehen haben, allem Sonnenschein und seiner Lebensfreude beraubt. Trotzdem ist nicht alles hoffnungslos verloren. Was bleibt, wenn alle gegangen sind, die man liebt? Gar nichts, aber irgendwie wird es schon weitergehen. Und so zeigt sich dieser novellenhaft kurze Roman nicht etwa deprimierend, sondern vermittelt eine eigentümliche Zuversicht. Andre, Verkörperung des plötzlichen, unvorhergesehenen Ereignisses, hinterlässt nicht etwa verbrannte Erde, sondern tritt als Befreierin auf, die eine Zäsur eintreten lässt. Ein Umbruch steht an, dem sich auch Traditionalisten nicht widersetzen können, und so erscheint sie als Prophetin eines neuen, freieren Zeitalters, als exzentrische Messias-Figur.

Mit seinen Vorgängern wie dem historisch inspirierten Seide oder dem märchenhaften Oceane Mare hat Emmaus nicht viel gemeinsam. Vielmehr geht es um das abrupte Ende der Jugend und diese seltsame Zeit des Erwachsenwerdens, die man erst bemerkt, wenn sie vorbei ist.

Alessandro Baricco: Emmaus
Hanser Verlag, 144 Seiten
Preis: 15,90 €
ISBN: 978-3-446-23824-4

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