Liebe – alles eine Frage der Technik!

Joachim Bessing – Untitled   Cover: Kiepenheuer & WitschWenn ehemalige Popliteraten in die Jahre kommen, dann kann scheinbar so einiges passieren. Natürlich auch ein Liebesroman. An einen solchen hat sich im Jahr 2013 Joachim Bessing mit Untitled gewagt. Aber ist das nicht doch wieder Popliteratur vom Feinsten, was dem Konsumenten dort zum privaten Lesegenuss vorgesetzt wird? – Eine „Seelenschau“ …

von SYLVIA KOKOT

Der Auslöser des gesamten Liebeschaos ist ja so (ich würde es am liebsten mit drei „o“ schreiben) klassisch: Erfolgreicher Modejournalist, Ressort-Leiter bei einer namhaften Zeitschrift, Enddreißiger trifft nach einer Restauranteröffnung beim anschließenden Feiern in einer Wohnung vor dem Bücherregal die Frau, die Eine, die Einzige. Sie besserwissern ein wenig über Plotin, nachdem ihm fast schicksalhaft das Buch Seele – Geist – Eines ins Auge gestochen ist und schon ist es um ihn, vielleicht auch um sie beide, geschehen. Es folgen Zahnpastaspiele, erste Küsse und das bisherige Leben des Ich-Erzählers bekommt Schlagseite.

Feuchter Traum des Kapitalismus

Einige würden das folgende Verhalten sicherlich als Midlife-Crisis bezeichnen, andere als Liebeswahn. Letzteres würde vermutlich auch der durch die Welt des Romans taumelnde Ich-Erzähler bevorzugen. Er trennt sich nicht nur von seiner langjährigen Freundin, schläft nicht, isst kaum – er trinkt vielmehr und konsumiert allerlei biochemische Substanzen, um hier nur mal den Anfang des Chaos zu beschreiben. Mehr und mehr verkommt die vorher perfekte stylische Wunschfigur kapitalistischer Marketingstrategien zu einem Wrack, – wobei: Stilsicher bleibt er, auch wenn die Blessuren größer, raumgreifender und mit einschränkender Wirkmacht auf ihn einprasseln. Und Geld hat er auch noch, also was soll’s?! Eigentlich ist doch immer noch alles perfekt, wäre da nicht dieser unglaublich zielsichere Weg in die freiwillige Selbstzerstörung.

„Der Abwesende“ in Social-Media

Er liebt diese Julia Speer also, sie ist verheiratet, sie sehen sich regelmäßig, aber selten und mehr als Küssen ist nicht. Die wiederholt langwierigen Passagen über seine Sehnsucht nach ihr, die Kontaktaufnahme über das iPhone, die herbeisuggerierte Verbindung über gegenseitig verschenkte Songs über iTunes verweisen fast schon zu genau auf Roland Barthes Fragmente einer Sprache der Liebe und dort natürlich auf die viel beschworene „Abwesenheit“. Bei Bessing scheint diese Unerreichbarkeit bis zum Exzess ausbuchstabiert. Und was kommt nach dem Exzess? – Der Kater! Vielleicht kann sich nur eine ignorante Nicht-Apple-Userin über den fetischistischen Wiederholungszwang bezüglich der Apple-Produktpalette ärgern. Vielleicht handelt es sich dabei aber auch um die Rückkehr zur Popliteratur. Ständig werden Musiktitel, Liedtext-Passagen etc. hin- und hergeschickt. Und er sammelt „J“-Fotos für sie. Er teilt sie mit ihr, ja, nur mit ihr, über Instagram. Denn diese mobile Foto- und Video-Sharing App lässt sich auch ganz exklusiv für die partnerbezogene Liebeskommunikation nutzen. Eine schöne Idee, die nach Lektüre des Romans sicherlich einige zum Nachahmen animiert, schließlich liefen ja auch Ende des 18. Jahrhunderts diverse blau-gelbe Gestalten nach ihrer Werther-Lektüre emphatisch empfindend durch die Weltgeschichte. Wie praktisch, dass Herr Bessing die Gebrauchsanweisung zur ersten Installation und Bedienung für dieses Publikum gleich mitliefert.

Werther und die (Sehnsuchts-)Technik

Natürlich dürfen die Werther-Reminiszenzen nicht fehlen, wenn das erzählende Ich sich doch so viel Mühe gibt, seine Liebe zur unerreichbaren, hier zwar nicht versprochenen, sondern bereits verheirateten Frau immer wieder in innerer Auseinandersetzung detailreich zu schildern. Das Leiden ist sein bedeutungsvoller Lebensmittelpunkt und steht gleichwertig direkt neben der Frau, die es ausgelöst hat. Das Ich also als Werther des 21. Jahrhunderts? Schon möglich, aber nur, wenn man bereits im Original eine Parodie zu lesen wagt, einen Briefroman der herbeizitierten, herbeitechnisierten Innerlichkeit, der Emanation der Liebe durch Technik. Und schließlich könnte man auch Luhmann und sein Liebe als Passion bemühen und fragen: Ist nicht alles ein bisschen Semantik? Verbindet sich in Untitled nicht vielleicht die Liebessemantik mit der Zeichenhaftigkeit der Popliteratur auf eine Weise, die bei genauerer Betrachtung zwangsläufig erscheint?

Zeilen ohne Pop

Nein, leider ist es damit auch nicht weit her, so kann man Marie Schmidt in der ZEIT nur beipflichten, wenn sie konstatiert, Bessing vermöge es eben nicht, jene Qualitäten der Popliteratur zu reanimieren, „jene[] zwischen heiligem Ernst und Ironie changierende[] Haltung, die Kritiker in den Irrsinn treiben kann und höchster formaler Disziplin bedarf“. Aber vielleicht kann man das Buch zu einem Hipness-Orakel umfunktionieren? Wer die meisten im Text genannten iTunes-Lieder auch in seinem Konto findet, hat gewonnen. Ich bin dann mal raus.

Joachim Bessing: Untitled
Kiepenheuer & Witsch, 304 Seiten
Preis: 19,99€
ISBN: 978-3-462-04517-8

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