Das Leben – Agonie der Untröstlichen?

Margarita Kinstner - Mittelstadtrauschen   Cover: DeutickeAlles rauscht dahin: unser Leben, die Tage, die Jahre, die Menschen, die Stadt. Ist das Schicksal? Wo bleibt das Glück? Und die Liebe? In ihrem Debütroman Mittelstadtrauschen berichtet Margarita Kinstner über das Dahinplätschern des Alltags in einer Welt, in der wir uns scheinbar nichts mehr zu sagen haben.

von KATJA PAPIOREK

Wir wachen auf neben Menschen, die wir nicht mehr lieben, vielleicht sogar nie geliebt haben. Das wird auch morgen noch so sein, weil wir mehr Angst vor dem Alleinsein haben als vor dem Unglücklichsein. Wir reden mit Menschen, verbringen Zeit mit ihnen, aber Freunde sind das eher selten, vielmehr flüchtige Bekannte, die zufällig gerade neben uns sitzen. Der tägliche Gang zur Arbeit, der mit Berufung schon lange nichts mehr zu tun hat. Die Familie, zu der wir uns irgendwie zugehörig fühlen sollten, die uns tatsächlich aber fremd ist, weil wir uns das Leben anders vorgestellt haben, nicht ehrlich sein können, einander nicht lieben können, nur weil wir verwandt sind. Verpassten Gelegenheiten trauern wir hinterher, anstatt uns auf das Jetzt zu konzentrieren. Wir belügen und betrügen – am meisten uns selbst. Ergeben uns in unser Schicksal, jagen dem Glück nicht mehr hinterher, haben den Glauben an die große Liebe längst verloren. Haben uns nichts mehr zu sagen, weil ja doch keiner zuhört. Ist das noch Leben, oder nur noch „Luftholen, vom Aufsteh’n bis zum Schlafengeh’n“? Vor dieser Frage stehen auch die Figuren in Margarita Kinstners Debütroman Mittelstadtrauschen.

(Un)Entwirrbares Figurenknäuel

Von diesen untröstlichen Gestalten gibt es dann auch nicht wenige. Mehr als ein Dutzend Figuren werden hier ins Rennen geschickt, deren Leben auf die eine oder andere Weise miteinander verknüpft sind. Gemeinsam ist ihnen die Sehnsucht danach, „erkannt zu werden“, nach dem Gefühl, „wenn dich jemand als Mensch erkennt. Wenn jemand spürt, wer du bist, ohne dass du darüber sprechen musst.“ Da ist etwa Marie, die in einem Wiener Café Jakob kennenlernt, als sie ihm seinen Kaffee über die Hose kippt. Jakob verliebt sich Hals über Kopf und verlässt seine Freundin Sonja, obwohl Marie ja eigentlich noch immer an Joe hängt, ihrer großen Liebe, der sich das Leben nahm. Dabei ließ er sich von seinem besten Freund Gery filmen. Dieser wiederum trifft nun auf Sonja, mit der er sich auf eine Affäre einlässt, obwohl er insgeheim in Marie verliebt ist. Eigentlich ist Gery Filmemacher, verdient sein Geld aber, indem er Essen auf Rädern ausfährt. Dabei freundet er sich zufällig mit Hedi an, der Großmutter von Jakob. Dann wären da noch zwei Töchter, ein verlorener Sohn, ein paar Quantenphysiker, der Pallatschinkenkoch und natürlich der Kasperle, der im Zusammenhang mit einer rätselhaften Testamentseröffnung eine wichtige Rolle spielt. Zu kompliziert? Allen, die die Übersicht verlieren, sei ein Blick auf das wirklich gelungene Cover angeraten, das schematisch die Verknüpfung von zwar nicht allen, aber immerhin 14 Figuren darstellt.

Übers Ziel hinausgerauscht?

Nun mag das dem einen oder anderen dennoch ein bisschen viel erscheinen für nicht einmal 300 Seiten. Hat sich Kinstner in ihrem Erstling da nicht vielleicht sogar etwas übernommen? Keine der Figuren lernen wir so richtig kennen. Zum Teil verlieren wir den Überblick über Zusammenhänge und Beziehungen, manchmal stellt sich gar die Frage, wer diese Person nun gleich war. Letztendlich ist das aber nur konsequent: „Mittelstadtrauschen hatte Joe es genannt. Die Menschen rauschen an dir vorbei, und die meisten von ihnen erkennst du schon morgen nicht wieder.“ Und indem die jeweilige Geschichte der einzelnen Figuren immer nur wie zufällig gestreift wird, entgeht Kinstner glücklicherweise auch der Versuchung, die Liebe und das Leben durch einen allzu sentimentalen und rosaroten Blick zu verkitschen. Hier ist keiner glücklich und zufrieden, aber das heißt noch lange nicht, dass sich die Figuren in Selbstmitleid suhlen. Fast schon nüchtern stellen sie fest, dass sie sich ihr Leben mal anders vorgestellt haben, dass sie Träume hatten.

Das Ende des Textes schrammt dann aber haarscharf am Kitsch vorbei, doch sei es der Debütantin verziehen. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass ein Happy End nicht immer nur von der großen Liebe erzählt, sondern manchmal auch vom Tod. Margarita Kinstner hat kürzlich den Vertrag für ihren zweiten Roman unterschrieben. Ein Generationenroman soll es werden. Freuen wir uns also auf einen weiteren Stammbaum.

Margarita Kinstner: Mittelstadtrauschen
Deuticke, 288 Seiten
Preis: 19,99 Euro
ISBN: 978-3-552-06226-9

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