Gestatten: Fischer. Und hiermit sollen die Gemeinsamkeiten zwischen meiner Kolumne und der von Frau Hemgesberg auch schon enden. Ich möchte Sie hier und heute zu einem Ausflug einladen, der uns jetzt und in den vier folgenden Kolumnen in die Vereinigten Staaten führt. Ok, jetzt aber wirklich anders. Wie angekündigt soll es um die Tradition des Essays gehen, allerdings muss ich das an dieser Stelle bereits einschränken, da ich ausschließlich gegenwärtige amerikanische Autoren vorstellen werde. Also, wenn Sie das interessiert, stellen Sie das Rauchen ein und bringen Sie Ihren Sitz in eine aufrechte Position. Wir heben dann ab.
von KAI FISCHER
Was haben Texte über die tennisspielerische Grazie Roger Federers oder die Lagerung von Atommüll in Nevada, über die Versuche eines jüdischen Intellektuellen, Rappen zu lernen, oder Christopher Nolans Blockbuster The Dark Knight, über Alzheimer oder John McCains Wahlkampf im Jahr 1999 gemeinsam? Die korrekte Antwort lautet: Nichts, außer dass sie alle der Gattung des Essays zugeordnet werden können. Lässt man Romane zunächst mal außer Acht, trifft auf keine andere Textsorte die Feststellung des alten Instetten besser zu, wonach es sich beim Essay um ein weites Feld handelt. Was ist denn nun ein Essay?, höre ich niemanden fragen und möchte dennoch, einem mir selbst erteilten Bildungsauftrag gemäß, eine Annäherung versuchen.
Ausgewiesene Experten
Was tut man, wenn man nicht weiter weiß? Man wendet sich an jemanden, der sich auskennt. Also, Herr Professor, dann mal los: „Der Essay fordert das Ideal der clara et distincta perceptio der zweifelsfreien Gewißheit sanft heraus. Insgesamt wäre er zu interpretieren als Einspruch gegen die vier Regeln, die Descartes’ Discours de la méthode am Anfang der neueren abendländischen Wissenschaft und ihrer Theorie aufrichtet.“ Äh, okay … Danke, aber geht es vielleicht auch eine Nummer kleiner? Auftritt Peter Zima, der in seiner Monographie Essay/Essayismus den Essay als „Intertext“ zwischen den Polen Theorie und Literatur verortet, was auf den ersten Blick auch plausibel erscheint. Ein Essay wäre demnach zugleich ein theoretischer und literarischer Text, wobei nicht klar ist, was hier mit theoretisch und literarisch gemeint sein soll. Widmet sich ein Essay einem theoretischen Problem mit literarischen Mitteln? Soll theoretisch heißen, dass ein beliebiges Thema theoretisch, also abstrakt und systematisch, behandelt wird, aber auch nicht so theoretisch, dass es langweilig zu werden droht, weshalb ein Essay eben auch literarisch ist, also irgendwie sprachlich besonders und/oder interessant?
Oder ist im Gegenteil die literarische Form ausschlaggebend dafür, dass ein Text ein Essay ist, und nicht eine Reportage oder ein wissenschaftlicher Aufsatz? Was aber heißt in diesem Zusammenhang literarische Form? Wird damit eine spezifische Sprachverwendung bezeichnet, die sich in ausgefallener Wortwahl, komplexem Satzbau, dem Gebrauch von Metaphern artikuliert? Orientiert sich ein Essay demnach mehr am Kriterium der Schönheit (sprich Literatur) als am Kriterium der Wahrheit (sprich Theorie)? Sie sind ausreichend verwirrt?
Unendliche Möglichkeiten
Möglicherweise hilft es, in der Zeit zurückzugehen, zum Ursprung, an dem man auf Michel de Montaigne trifft, dessen Essais die Gattung bzw. Textform sowohl begründeten als auch ihr den Namen verliehen. Dabei überrascht weniger die Vielfalt der Themen, über die Montaigne geschrieben hat – Über die Traurigkeit, Über die Nachteile einer hohen Stellung, Über die Menschenfresser. Entscheidend ist, in welcher Weise er über diese selbstgewählten Themen geschrieben hat. Um eine schöne Formulierung Hans Magnus Enzensbergers zu zitieren, Montaigne schrieb „ohne sich, den Leser oder den Gegenstand zu erschöpfen“. Damit kann man doch was anfangen: Buchstäblich alles kann in einem Essay thematisiert werden, und zwar in einer Weise, die keinen Abschluss finden muss, keine Endgültigkeit beanspruchen will. Das mag eine hinreichende Annäherung sein, allerdings fehlt noch ein konstitutives Element. Es fehlt das wahrnehmende und schreibende „ICH“, dem irgendetwas zum Anlass für einen Text wird, den man dann Essay nennen könnte.
Journalistisches Amerika
So weit, so gut, Gelegenheit, Unabgeschlossenheit und ein (hoffentlich talentierter) Schreiber sind sämtlich Kennzeichen des Essays. Warum aber Amerika?, höre ich wieder niemanden fragen. Einfache, aber unbefriedigende Antwort bzw. Gegenfrage: warum nicht? Eine weitere mögliche, gleichwohl genauso unbefriedigende Antwort: persönlicher Geschmack. Letzte Antwort, die zutreffend und der Sache angemessen ist: Weil es sich gegenwärtig vor allem lohnt, amerikanische Essayistik zur Kenntnis zu nehmen, da dort die legitimen Erben Montaignes schreiben (bzw. geschrieben haben). Daran ändert auch der Artikel von Andreas Martin Widmann in Der Freitag nichts, der im Essay nicht nur die „Form der Stunde“ erkennt, sondern sogar das „Comeback“ des Essays als „Kunstform“ ausgerufen hat. Da stellt sich die Frage, wo denn in Deutschland? Zwar gibt es durchaus deutsche Schriftsteller, die Essays schreiben – etwa Hans Magnus Enzensberger, Dietmar Dath, Kathrin Passig oder Tobias Moorstedt –, aber dass wirklich einmal ein Essayband von renommierten Verlagen veröffentlicht wird und erfolgreich ist, stellt in Deutschland eine Seltenheit dar.
Deutsche Essayistik tendiert zum Schwerwiegenden und Grundsätzlichen – wer mir keinen Glauben schenken mag, soll einmal ein Buch von Henning Ritter oder Botho Strauß lesen –, während amerikanische Essayistik Montaigne treu bleibt und in den meisten Fällen von der persönlichen Erfahrung des Autors ausgeht. Amerikanische Autoren können zudem auf ein viel breiteres Spektrum an Magazinen und Zeitschriften, die Essays publizieren, zurückgreifen: Partisan Review, The New Yorker, Harper’s, New Left Review, n+1, The Jacobean, The Baffler. Diese Liste ist natürlich unvollständig, weist aber darauf hin, dass Essays, wenn man sie als Erbe Montaignes versteht, in Deutschland keine publizistische Heimat haben. Das wiederum könnte darin begründet sein, dass es in Deutschland keine Tradition eines literarischen Journalismus gibt wie er in Amerika unter dem Label „New Journalism“ ausgebildet und gepflegt wurde (und wird). Autoren wie Hunter S. Thompson oder Gay Talese waren nicht bloße Berichterstatter, sondern thematisierten auch immer sich selbst als Teil der Berichterstattung. Dieser subjektivistische Turn innerhalb der engen Grenzen des Journalismus, der in Deutschland weitestgehend erfolgreich ignoriert wurde, bietet sich als ein weiterer Anknüpfungspunkt für die hier vorzustellenden Essaybände an.
Und wenn Sie jetzt nach so viel grundsätzlichem Info-Dumping noch Lust haben, kommen Sie einfach nächste Woche Samstag wieder. Dann landen wir bei David Foster Wallace, und wenn das kein Grund ist, dann weiß ich auch nicht.
Eine würdige Vertretung, ich freue mich schon auf nächsten Samstag. Auch, weil ich Essays sehr schätze.