Haruki Murakamis bislang größter Erfolg zeigt einen Weltautor auf der Höhe seines Könnens“, wirbt der DuMont-Verlag. Muss man nicht so sehen. Man kann Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki aber trotzdem gut finden. Denn abseits von Handlung/Nichthandlung ist es ein bitterschönes Buch.
von FABIAN MAY
„Wahrscheinlich war es letzten Endes sein Schicksal, allein zu sein. Alle Menschen, die ihm näherkamen, verließen ihn bald wieder. Sie suchten etwas bei ihm, aber anscheinend fanden sie es nicht, oder das, was sie fanden, gefiel ihnen nicht; jedenfalls gaben sie (vielleicht enttäuscht oder ärgerlich) irgendwann auf. Eines Tages waren sie dann plötzlich verschwunden. Ohne Erklärung und ohne Abschiedsgruß. Wie man mit einem scharfen Beil eine Ader durchtrennt, durch die eben noch warmes Blut geflossen war./Offenbar hatte er etwas an sich, das andere Menschen enttäuschte. Der farblose Herr Tazaki, sagte er laut. Im Grunde lief es darauf hinaus, dass er anderen nichts zu geben hatte. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal sich selbst etwas zu geben.“
Kennen Sie das: Früher war alles perfekt, doch es konnte nicht so bleiben? So geht es Herrn Tazaki. In der Oberschule bildete er mit vier anderen ein perfektes Fünfeck: „Sie hatten keine bestimmten Themen, aber der Gesprächsstoff ging ihnen nie aus.“ Doch dann zieht Tazaki als Einziger zum Studieren nach Tokio, und man sagt ihm: „Es tut mir leid, aber ich muss dich bitten, nicht mehr anzurufen. Keinen von uns.“ Der Grund? „Kannst du dir den Grund nicht selber denken?“ Kann er nicht. Aber er fragt auch nicht.
Seelenleben eines Durchgangsbahnhofs
Mit Vornamen heißt er Tskuru. Ich werde so persönlich, weil Murakamis Buch eine Charakterstudie ist. Tsukurus Freunde heißen Japanisch für Schwarz, Weiß, Rot und Blau. Tsukuru hingegen ist Japanisch für „etwas machen“. Irgendwie ist er anders als die anderen. Er fühlt sich wie ein leeres Gefäß, eine Leinwand, eine Durchgangsstation. Tatsächlich ist es seine Leidenschaft – wenn man so weit gehen will, von Leidenschaft zu sprechen –, in Bahnhöfen zu sitzen und den Durchreisenden zuzusehen. Das ist sogar Teil seines Berufs. Er baut Bahnhöfe. Eigentlich ist er ein Bahnhof: Gut funktionierend, aber niemand bleibt bei ihm. Auch seine Freundin sagt ihm, sie werde nicht mit ihm schlafen und/oder zusammenbleiben, wenn er nicht klärt, was damals zwischen seinen Freunden und ihm geschah.
Derart motiviert, rafft er sich endlich mit 36 Jahren auf, die Freunde von damals zu fragen. Er trifft sie in recht akzeptablen Lebensumständen an – Lexus-Autohändler, Eso-Businesscoach, nach Finnland ausgewanderte Künstlerin –, sie erklären ihm das große Missverständnis von früher, das aufzuklären sie sich ihrerseits nie haben aufraffen können. Alle wünschen einander das Beste, Tsukuru stößt auf seiner Reise immer wieder auf das Stück „Le mal de pays“ (Heimweh, Melancholie) aus Liszts Années de pèlerinage (Pilgerjahre), das die romantische Schönheit Weiß immer spielte, und dann ist auch Seite 318 ausgelesen. Lesezeit: drei Feierabende.
„‚Ich komme mir vor wie ein leeres Gefäß. Vielleicht habe ich eine gewisse Form, aber von Inhalt kann keine Rede sein.‘ […] ‚Und selbst wenn du ein leeres Gefäß bist, was macht das schon?‘, sagte Eri, ‚Dann bist du eben ein ganz wunderbares, attraktives Gefäß.‘“ Interessant an Murakamis Romanen ist eigentlich, dass in ihnen abstruse Dinge passieren. Hier passiert fast nichts. Davon aber eine Menge. Und, so darf man bei einem alten Hasen wie Murakami vermuten, mit System. Dieser Roman hat in seiner Hintergründigkeit so viel System, dass er als Roman nicht funktioniert.
Roman ohne Eigenschaften
Aber er ist schön in seiner bittersüß existenzialistischen Leere. Das heißt: Wenn er nicht gerade Tsukurus Gefühlslage totexpliziert oder sich die äußerst kommunikationsgeschulten Figuren auf hochgebildete Weise über den jeweils anderen und die Welt austauschen. Oder wenn er nicht seinem Leser erklärt, dass offenbar alle Finnen („Sibelius, Filme von Aki Kaurismäki, Marimekko, Nokia, die Mumin-Familie“) mit Vorliebe philosophisch werden. – Das wussten wir doch schon.
„Es ist schon seltsam, wenn man einmal darüber nachdenkt […]. Findest du nicht? Obwohl wir eigentlich in einer Zeit zunehmender Beziehungslosigkeit leben, sind wir von so vielen Informationen über andere Menschen umgeben. Wenn man will, kann man sich ganz leicht Zugang zu diesen Informationen verschaffen. Und doch wissen wir fast nichts über andere Menschen.“
Schön ist dieser doch manchmal daherschwafelnde Roman vor allem dann, wenn sich in den ruhigen Lebensfluss dieses Routinemenschen Exkurse mischen, die guten Geschichten ähneln: der Traum, oder war es keiner, in dem Tsukuru eine homosexuelle Erfahrung mit einem Philosophenjüngling macht. Die Geschichte, die dieser aus den 68er-Wanderjahren seines Vaters erzählt: von einem aus der Bahn geworfenen Jazzpianisten, der das Zeichen des Todes trägt, es aber nicht mit jemandem tauschen will, denn seit er es hat, sieht er den wahren Anblick:
„Wenn du den wahren Anblick gesehen hast, erscheint dir die Welt, in der du bisher gelebt hast, furchtbar flach. Dieser Anblick ist weder logisch noch unlogisch. Weder gut noch schlecht. Alles verschmilzt zu einem Ganzen. Und du selbst bist auch Teil dieses Ganzen.“
Und ganz leise doch gewonnen
Man wünschte doch, so empfinden zu können. Und diese kleine Geschichte der Seiten 68 bis 85 weitererzählt zu bekommen. Ansonsten ist die Sprache im Buch sehr erwachsen. Sie versucht bis auf die wenigen funkelnden Stellen nie, ihre Kompetenzen zu überschreiten. Man könnte sie rücksichtsvoll nennen. Oder sagen, dass sie ihre Grenzen erkannt und akzeptiert hat, wie der 36-jährige Tazaki. – Ich nenne ihn doch lieber wieder beim Nachnamen, denn nach 318 Seiten meine ich ihn immer noch nicht zu kennen. Er bleibt farblos. Ich habe dieses Wort in Bezug auf den Roman vermeiden wollen. Aber es geht nicht ohne. Da schmeckt schon wieder System durch. Ein leises, das im Roman wirkt. Und da hat er mich dann doch gekriegt. Ich finde, Leise ist nicht immer das neue Laut. Hier aber schon.
Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
DuMont, 318 Seiten
Preis: 22,99 Euro
ISBN: 978-3-8321-9748-3