Herzlich Willkommen zur dritten Woche über amerikanische Essays! Mein Name ist Fischer und ich bin heute wieder Ihr Reiseleiter. Ich hoffe, Sie halten Ihre Bordkarten bereit, damit wir zügig los kommen. Den ersten Stopp legen wir heute in Claremont, Kalifornien, ein, wo Jonathan Lethem am Pomona College Creative Writing lehrt. Und da wir schon mal in Kalifornien sind, fahren wir danach die Küste entlang Richtung Santa Cruz und treffen hoffentlich Jonathan Franzen. Vorausgesetzt er ist nicht unterwegs, um Vögel zu beobachten. Also, packen Sie ein paar Cracker ein, denn es wird eine lange Etappe.
von KAI FISCHER
Ich habe einen Traum, und nein ich bin nicht Martin Luther King oder die Kolumne aus dem ZEIT-Magazin. Ich würde mir von Herzen wünschen, dass sich mehr Leser zutrauten, die hier vorgestellten Bücher im Original zu lesen. Immerhin handelt es sich um gegenwärtiges Englisch. Kurzer Einschub in eigener Sache: Ich habe bereits letzte Woche eine schwache Übersetzung kritisiert. Sollten Sie das noch nicht gelesen haben, dann holen Sie das schleunigst nach, denn die Kolumne von letzter Woche ist nichts weniger als brillant. Was riecht denn hier plötzlich so komisch? Ah, Eigenlob. Zurück zum Thema: Ich erwähne das, da mir leider nur die Übersetzung von Jonathan Lethems Essaysammlung The Ecstasy of Influence vorliegt, deren deutscher Titel mich Zuflucht in meiner Wutkammer suchen lässt. Er lautet Bekenntnisse eines Tiefstaplers.
Keine Bekenntnisse, keine Tiefstapelei
„Warum ärgern Sie sich darüber?“ Nicht nur weil der deutsche Titel andere Konnotationen evoziert, sondern … „Aber ist das nicht bei jeder Übersetzung so?“, unterbricht eine zweite Reiseteilnehmerin. Hätten Sie mich ausreden lassen, hätte ich es Ihnen erläutert. Sieht man einmal von der Thomas-Mann-Referenz ab, die mit Blick auf die von Lethem besprochenen Autoren insgesamt unpassend ist, störe ich mich zunächst an dem Wort „Bekenntnisse“. Wer muss hier etwas bekennen? Ist Lethem ein Verbrecher? Oder gläubig? Ist The Ecstasy of Influence eine Neuauflage des Augustinus-Klassikers? Oder von Rousseau? Hat Jonathan Lethem etwas zu verheimlichen? Natürlich nicht. Der englische Titel verweist auf eine literaturtheoretische Position, die von Harold Bloom in The Anxiety of Influence formuliert worden ist. Grob und daher notwendig vereinfachend gesprochen, besagt diese Theorie, dass die Literaturgeschichte eine Geschichte der angstbesetzten, ödipalen Kämpfe von Dichtern mit ihren Vorläufern, sprich Vaterfiguren, sei. Um ein großer, und das heißt bei Bloom immer auch kanonischer, Dichter werden zu können, müsse der Dichter gegen seine Vorfahren rebellieren und sich von deren Einfluss emanzipieren. Es geht Lethem demnach um ein anderes Verständnis davon, wie Literatur funktioniert, und er richtet sich – das wird durch den Originaltitel deutlich – eindeutig gegen die Annahme Blooms, der Schriftsteller sei ein Genie. Dass das Wort „Tiefstapler“ diesen Umstand nur unzureichend erfasst, stört immens. Denn es geht Lethem nicht darum, „tiefzustapeln“, sein Licht unter den Scheffel zu stellen oder sich kleiner zu machen als er ist. Vielmehr versammelt der Band Texte über die zahlreichen und vielfältigen Einflüsse, die aus Lethem den Schriftsteller Jonathan Lethem gemacht haben; und noch einmal, er bekennt sich nicht zu diesen Einflüssen, sondern er schreibt einfach über sie. Lassen Sie sich also nicht von dem dämlichen deutschen Titel abschrecken, da Sie ansonsten, neben vielen anderen Sachen, eine sehr amüsante Betrachtung über den Film The Dark Knight verpassen, die nicht bloß eine Eloge ist. Und sollten Sie ein Fan von Science-Fiction sein, dann ist dieses Buch eine Pflichtlektüre für Sie.
Einfluss, Autobiographie und Rivalität
Auf nach Santa Cruz, sind nur 374 Meilen und Sie haben ja Ihre Cracker dabei. Auf der Fahrt können wir gerne die Frage klären, ob es Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Jonathans gibt. In Hinblick auf die jeweiligen Romane gibt es kaum feststellbare Ähnlichkeiten, sieht man sich allerdings die Essaybände an, wird man durchaus Gemeinsamkeiten entdecken können. So nehmen beide, im Gegensatz zu DFW (lesen Sie die Kolumne der letzten Woche), häufiger Bezug auf ihre Biographie. Damit ist nicht nur gemeint, dass sie persönliche Erfahrung thematisieren oder sie zum Ausgangspunkt eines Textes machen – das machen beinahe alle Essayisten –, sondern dass sie von ihren familiären Verhältnisse, von ihren Eltern oder zumindest vom Gehirn des Vaters (Franzen), von Geschwistern und Freunden erzählen. Jonathan Franzen reflektiert in seinem zweiten Essayband, Farther Away (dt. Weiter weg), sogar diese spezifische Form autobiographischer Fiktion, die auch ein Kennzeichen seines im engeren Sinne literarischen Schreibens ist. Zugleich ist das erste Drittel dieses Textes auch eine Auseinandersetzung mit der häufig gestellten Frage an Autoren nach ihren Einflüssen, womit man natürlich eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Jonathan 1 und Jonathan 2 gefunden hat. Im Fall von Jonathan 2, im Zusammenhang dieser Kolumne also Franzen, ist die Frage nach Einflüssen bzw. der Abwehr von Einflüssen jedoch noch in anderer Hinsicht von Interesse. Franzen war ein guter Freund von DFW und, folgt man für einen kurzen Moment der Annahme Harold Blooms, dann handelte es sich bei dem Verhältnis zwischen Franzen und DFW nicht nur um Freundschaft, sondern natürlich auch um Rivalität zwischen zwei Schriftstellern. Auch darüber schreibt Franzen in dem vielleicht besten Essay seines zweiten Bandes. Der Anlass seiner Reise auf die vor Chile gelegene Insel Masafuera war, dass Franzen nach der Veröffentlichung von Freedom eigentlich Vögel beobachten wollte. Doch schildert er nicht allein diese Reise, vielmehr wird sein Aufenthalt auf dieser Insel zum Anlass, um über die Geschichte und die Funktion des Romans nachzudenken sowie sich endlich mit dem Selbstmord seines Freundes auseinanderzusetzen. Diese Teile sind die mit Abstand klügsten und sensibelsten Worte, die jemand über DFWs Suizid geschrieben hat. Also, lesen Sie Farther Away und wenn Sie schon dabei sind, lesen Sie auch How to be alone, Franzens ersten Essayband. Es soll Ihr Schaden nicht sein.
So, Santa Cruz, alle aussteigen bitte. Was? Er ist nicht da? Nun ja, da wir nächste Woche nach New York müssen, um Mark Greif von n+1 zu besuchen, können wir auch jetzt schon die weitere Reise antreten. Wenn Jonathan Franzen nicht hier ist, dann ist er bestimmt in New York, wo er ebenfalls lebt. Als erfolgreicher Schriftsteller kann man sich anscheinend zwei Wohnsitze leisten. Und da wir nächste Woche sowieso an der Ostküste sind, machen wir einen Abstecher nach Wilmington, North Carolina. Dort lebt nämlich John Jeremiah Sullivan, Autor von Pulphead.