Auf ein literarisches Philly Cheesesteak, KW 10

John Jeremiah Sullivan bei den National Book Critics Circle Awards   Foto: Wikimedia User David ShankboneNew York … unendliche Weiten … Halt! Was? Das geht in die vollkommen falsche Richtung. Hier geht es nicht um literaturkritische Raumfahrt, sondern um Literaturtourismus der gehobenen Art durch die amerikanische Essayistik. Noch mal von vorn: Die erste Etappe unserer Reise führt uns heute nach New York, den einzigen großen Apfel, den der iGod nicht patentieren konnte, wo Mark Greif von n+1 auf uns wartet. Danach fahren wir die Ostküste runter, wo uns John Jeremiah Sullivan in seinem Haus empfängt. Dass dort Peyton Sawyer, eine Figur aus der Serie One Tree Hill, gewohnt hat, ist nur eines der Themen, denen sich Sullivan in seinem Buch Pulphead widmet.

von KAI FISCHER

Als niemals schlafende Metropole ist New York nicht nur ein Teil der globalen Folklore, sondern in den Augen zahlreicher Europäer ein Vorposten der Alten Welt in der geistlosen Wüste, die man die Vereinigten Staaten von Amerika nennt. Eine solche Sichtweise ist natürlich prätentiös, denn New York ist keine europäische Stadt, sondern durch und durch amerikanisch. Beweis gefällig? Bitte sehr! Im Herbst 2004, zu einer Zeit also als die amerikanische Öffentlichkeit zum zweiten Mal eine schlechte Wahl getroffen hatte – ja, richtig geraten, gemeint ist George Double-U Bush –, gründeten Keith Gessen, Chad Harbach, Benjamin Kunkel, Marco Roth und eben Mark Greif in bester amerikanischer DIY-Manier ein neues Literaturmagazin mit dem Titel n+1. In einer Zeit, die, glaubt man den Marketingstrategen großer Technologie- und Social Media Unternehmen, nichts weniger nötig hat als ein neues gedrucktes Magazin, war die Gründung von n+1 nicht nur Zeugnis kommerzieller Unvernunft, sondern selbst schon ein politisches Statement. Doch erschöpft sich die Bedeutung dieser Zeitschrift nicht darin, eine Art aufklärerische Gegenöffentlichkeit bieten zu wollen. Vielmehr geht es um die Wiederbelebung einer uramerikanischen Tradition des Journalismus, die nicht trennt zwischen der soziologischen Betrachtung, der politischen Analyse und der literarischen Polemik. Sollten Sie sich nicht dazu aufraffen können, die gedruckte Zeitschrift zu abonnieren, dann können Sie sich entweder einen Eindruck auf der Homepage verschaffen oder Sie greifen zu der n+1-Anthologie Ein Schritt weiter, die 2008 bei Suhrkamp erschienen ist. Mark Greif schreibt darin etwa über die gesellschaftlichen Effekte des Fitnesszwangs oder über die Philosophie von Radiohead.

Doppelte Verlegenheit

Mark Greif bringt mich in Verlegenheit. Da habe ich in den letzten Wochen stets Wert darauf gelegt, dass man sich die besprochenen Texte, wenn möglich, im Original reinpfeift, und dann veröffentlicht Mark Greif seine erste eigenständige Essaysammlung ausschließlich bei Suhrkamp, wobei man die meisten Texte auch im Internet finden kann. Bluescreen versammelt Essays zu Themen wie der Funktion Youtubes innerhalb des Geflechts der Massenmedien; wie es ist, als jüdischer Intellektueller daran zu scheitern, rappen zu lernen; oder über etwas, das Greif, „anästhetische Ideologien“ nennt. Hierin liegt der Grund für meine zweite Verlegenheit in Bezug auf die Essays von Mark Greif. Als Amerikaner ist er ein ausgesprochen europäischer Essayist, und zwar nicht nur hinsichtlich seiner Einflüsse – ich sage nur Kritische Theorie –, sondern vor allem wegen seiner Neigung zu raumgreifenden theoretischen Entwürfen, die stets mit kulturkritischen Annahmen garniert sind. Aber lassen wir den Autor selbst sprechen: „In den Kapiteln dieses Buches geht es mir nicht so sehr um einzelne Formen, die für unsere Zeit typisch sind, als vielmehr um die totale Ästhetisierung unserer Leben.“ Damit stellt Mark Greif interessanterweise die Ausnahme der hier vorgestellten Autoren dar. Übrigens habe ich aus demselben Grund darauf verzichtet, Susan Sontag in meiner Kolumne zu behandeln, auch weil man ihre Texte kennen sollte.

Reality-TV

Besonders deutlich wird dieser Unterschied, wenn man Greifs Essay über Reality-TV mit dem von John Jeremiah Sullivan über dasselbe Thema vergleicht. Wo Greif über die Möglichkeit des Fernsehens als gesellschaftliche Utopie reflektiert, stellt Sullivan zunächst einmal seine eigene Erfahrung als Zuschauer von Reality-TV an den Anfang. Sullivan berichtet von seiner Begegnung mit den Darstellern seiner Lieblings-Reality-TV-Show (MTVs The Real World) und auch er schreibt über die grotesken Seiten des Fernsehdaseins. Allerdings, und das macht ihn zumindest für mich lesenswerter, hat man niemals das Gefühl, als sei Sullivan seinem Gegenstand gegenüber in einer höheren – intellektuellen, moralischen, was weiß ich – Position. Am Ende des Essays Getting down to what is really real findet sich etwa folgende Passage über den Darsteller The Miz: „In that moment, I found it awfully hard to think anything bad about the Miz. Remember your senior year in college, what that was like? Partying was the only thing you had to worry about, and when you went out, you could feel people thinking you were cool. The whole idea of being a young American seemed fun. Remember that? Me neither. But the Miz remembers. He figured out a way never to leave that place. Bless him, bros.” Kurz gefasst, Sullivan erweist sich als einfühlsam teilnehmender Beobachter, während Greif durchaus Gefahr läuft wie ein Klugscheißer rüberzukommen, allerdings ein Klugscheißer, der immer noch lesenswertere Texte schreibt als Jan Fleischauer und Georg Diez zusammen.

Bevor ich Sie jedoch für heute an den wunderschönen Strand von Wilmington entlasse, muss ich noch einmal kurz auf die deutsche Ausgabe von Sullivans Pulphead eingehen. Zwar bekommen Sie mit dieser Ausgabe einen Text mehr als in der amerikanischen; warum man sich bei Suhrkamp dazu entschieden hat, den saudummen und irreführenden Untertitel Vom Ende Amerikas hinzuzufügen, erschließt sich nicht. Keiner der Texte, egal ob über ein christliches Rockfestival, über die Tea-Party Bewegung oder über Axl Rose, spricht auch nur ansatzweise in der vom deutschen Untertitel suggerierten apokalyptischen Weise über Amerika. Was zur Hölle soll das? Und wissen Sie, was das eigentlich Schlimme daran ist? Dass Journalisten solchen Quatsch unkommentiert übernehmen und aus Sullivan einen Kulturkritiker machen wollen, der er eindeutig nicht ist. Lesen Sie also das Original. Bitte!

In der abschließenden Kolumne der nächsten Woche besuchen wir dann noch John D’Agata in Iowa. Sollten Sie sich jetzt fragen, wer John D’Agata ist, seien Sie beruhigt, wirklich bekannt ist er in Deutschland nicht. Es wäre allerdings Zeit, dass sich das ändert.

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