Von der Hölle, nicht aus sich herauszukommen, erzählt der in Argentinien berühmte Guillermo Saccomanno (*1948) in seinem Roman Der Angestellte. Doch den großspurigen Ankündigungen von KiWi wird er nicht gerecht. Dafür sorgen mit vereinten Kräften seine entfremdete Sprache und die Nullsummenhandlung.
von FABIAN MAY
„Kafka meets Blade Runner“, soll El País geurteilt haben, schreibt der Verlag hinten drauf. Vanity Fair (hört, hört!) schreibt: „Eine trockene, eine heiße, eine scharfe Prosa“. Im Klappentext: „Drei Uhr früh, und er schiebt eine Faust in ihre Vagina.“
Da konnte ich nicht widerstehen. Aber ich habe lange warten müssen, bis es dann auf Seite 154 von 191 heißt, die Familie habe sich „um ihn geschart, betrachtet ihn wie ein sterbendes Ungeziefer“. Gemerkt? Hier wird nicht mit Zaunpfählen gewunken, sondern geworfen. Oder mit Kafkas. Und Dostojewskis. „Die Russen, sagt der Kollege. Er solle die Russen lesen. Seine Augen sind feucht. Die Russen kennen sich aus mit der inneren Wahrheit.“
Technologie von vorgestern
Viel übertriebene Gewalt im Fernsehen und auf den Straßen dieser futuristisch wirkenden argentinischen Megastadt; und ein wahrhaft erbärmlicher, unsympathischer Angestellter mit überspannter Fantasie, der sich nach einer einzigen gemeinsam verbrachten Nacht in eine Affäre mit der Sekretärin hineinsteigert, die ihrerseits eine Liebschaft mit dem Chef hat. Man könnte das Buch genauso gut mit „Dostojewski meets Uhrwerk Orange“ zusammenfassen.
Wenn es nicht so platt daherkäme. Der Fernseher als Protagonist einer verrohten und voyeuristischen Welt, der Angestellte als der perfekt entfremdete Mensch, sein Kollege, der die Russen liest und vom Aussteigen in Patagonien träumt. Literarisch ist das alles wie Technologie von vorgestern. Zwar motivlich mit der Weltliteratur verbunden, aber über weite Strecken nicht gut geschrieben. Die Figuren (Angestellter, Kollege, Sekretärin, Chef, Frau) sind demonstrativ typenhaft, sie haben keine Eigennamen. Der angestrengte Stil (Parataxe, wörtliche Rede ohne Anführungszeichen) hält so viel Abstand, dass sich Entfremdungseffekte einstellen. Gegenüber dem ganzen Buch, wohlgemerkt.
Er hat so seine Momente
Zu den stärkeren Stellen gehören da noch die, in denen er wütend die Kinder (durchgehend: „die Brut“) beschreibt: „Jemand zerrt an seinem Hemd. Eine kleine Dicke mit Zöpfen. Sie fordert ein bisschen Kleingeld von ihm. Er will sich das bettelnde Kind vom Hals schaffen. Aber er kann nicht: Sie ist seine Tochter.“
Oder wenn er grundsätzlich wird: „Eigentlich, denkt er, ist das große existenzielle Dilemma die Erinnerung. Sie sorgt dafür, dass man nicht vergessen kann, wer man ist, sagt er sich. Denn könnte er vergessen, würden seine Hände nicht schwitzen. Er wünschte, er hätte kein Bewusstsein. Das Bewusstsein ist wie die Hubschrauber, die auf der ständigen Suche nach Aufständen über der Stadt kreisen.“ Roman und Figur schaffen es, die Sprachen von Kultur- und Neurowissenschaft auf zeitgemäße Weise zusammenzubringen. Bevor sie dann von der stellenweise reichen Gedankenprosa ins Hamsterrad der öden Resterzählung zurückfallen.
Aber die Russen bleiben Champion
Gut auch, wenn der Andere sich einmischt, den es theoretisch gibt, seit der Angestellte mit der Sekretärin fremdgegangen ist. Er wäre gern dieser Andere: ein badass. Er träumt davon, seine Familie zu vergasen und ein Tier zu werden. Aber er wacht immer auf als er selbst. Wenn Literatur Eskapismus ist, dann ist dieser Roman der Murmeltiertag: Man fragt sich am Ende, warum man sich wieder bei Null befindet. Darüber können die vereinzelten stilistisch funkelnden Stellen nicht hinwegtrösten.
Die Russen, sagt der Kollege. Und man weiß, dass er was ganz Großes meint. Aber es kommt nicht immer an. Man steht zu diesem Roman so wie der Angestellte zum Kollegen: Er erzählt etwas mit leuchtenden Augen, doch dem Grund seiner Begeisterung kann man nicht ganz folgen. Zehn Seiten vor seiner Verendung liefert der Roman dann die geeignete Beschreibung seiner selbst: Das Feuer greift nicht über, „eine athermische Erfahrung“.
Ein Gutes hat Saccomannos Angestellter aber doch: Er hat mir endlich einen unausweichlichen Grund geliefert, mich mit Dostojewski zu beschäftigen. Der Doppelgänger liegt vor mir. Ich freue mich schon drauf.
Guillermo Saccomanno: Der Angestellte
Kiepenheuer & Witsch, 191 Seiten
Preis: 18,99 Euro
ISBN: 978-3-462-04598-7