Dietmar Daths Roman der letzten Künste stellt eine alte Frage: Braucht es Kunst und wenn ja wozu? Doch diejenigen, die sich in und auf Feldeváye mit der Suche nach einer Antwort (oder vielen) beschäftigen, können sich nicht darauf berufen, dass es Kunst gibt und sie deswegen notwendig ist oder dass man sich mit ihr beschäftigen muss, weil es sie gibt – denn sie leben in einer Welt, die die Kunst „überwunden“, weil „verwirklicht“ hat. Trotzdem taucht sie wieder auf und verführt diejenigen, die ihr begegnen dazu, nicht nur die Werke, sondern sich selbst und ihr Universum auf eine Weise zu hinterfragen, die ihre ganze Welt in Gefahr bringt.
von SOLVEJG NITZKE
Zwei Männer, mehr als Freunde, begeben sich auf eine Reise zu den letzten Künsten. Klemens Erikson, der „lehrreiche, ungefährliche Krankheiten“ verbessert und Severin Rkeyser, ein Spatiokomponist, fliehen „tief in die Himmel“, um woanders ein gemeinsames, besseres Leben aufzubauen. Die Wahl fällt gleichermaßen aus Zufall wie aus Neugier auf Feldeváye, den Planeten der letzten Künste. Allerdings sind die letzten Künste auf dem Planeten nicht (noch) zu finden, weil sie bewahrt worden wären, sie tauchen nur dort wieder auf.
Innerhalb der riesigen bewohnten Welt, dem Universum, das bei Dath von vielen und verschiedenartigen intelligenten Raumfahrerzivilisationen bevölkert ist, gilt die Kunst als vergangenes Artefakt der Menschen. Sie ist verwirklicht, weil die Grenzen von Raum, Zeit und Körpern sich als auflösbar und manipulierbar erwiesen haben. Die „Zeit des Mangels“ ist vorbei, Biologie und Technologie sind längst keine Gegensätze mehr, sodass Kommunikation und räumliche Bewegungen über Distanzen (wiederum räumlich, zeitlich und kulturell) möglich sind, die für die Menschen in der „Zeit vor der Hidschra“ (also uns) nicht anders als phantastisch erscheinen können. Feldeváye, dem Planen der letzten Künste, öffnet aber einen Möglichkeitsraum, der auch in einer Welt, in der nichts (mehr) unvorstellbar schein, noch Raum bietet für – ja was eigentlich? Entwicklung? Entdeckung? Oder doch Kunst?
„Feldeváye, das ist wirklich nirgends. Das ist gar kein Ort, eigentlich. Das ist eine Geschichte, für Kinder mit großen Augen, denen man beibringt, ohne Schnittstellen Bilder zu machen, ohne Synes zu träumen, ohne Raumdeuter Musik zu spielen. Feldeváye, das ist noch gar keine Welt. Daraus muss man erst eine machen. Genau das können wir tun. Zusammen.“
„Wie zu Zeiten als es die Künste gab“
Die Künste, in Form von einzelnen Kunstwerken, tauchen auf diesem utopischen Planeten („Das ist eigentlich kein Ort“ könnte man durchaus als „Das ist eine Utopie“ übersetzen) nicht zufällig wieder auf, auch nicht auf Initiative der Menschen, sondern als rätselhaftes Geschenk einer anderen Spezies.
Kathrin Ristau, die Tochter des einzigen Brenners und Flammenjägers des Thomasstreifens (sonst sind diese hochgeschätzten Berufe Frauen vorbehalten), entwickelt eine besondere Beziehung zu den „Flammen“ und den in ihnen enthaltenen Kunstwerken. Nicht nur scheint sie einen sechsten Sinn zu haben, wenn es darum geht, diese im ewigen Eis zu finden. Zusammen mit Klemens, dessen havarierte Insel sie im Eis aufspürt, entdeckt sie immer stärkere Verbindungen zwischen sich und den Werken, den Künsten – Verbindungen, die ihr auch die hochentwickelten Wissenschaften nicht erklären können. Schließlich ist sie es, die dem Gerede der „Auswertung“, dass sich an der Frage „Was für eine Zivilisation machen die Künste aus Feldeváye?“ entzündet, Antworten entgegenhält: Potentiell ist alles Kunst, potentiell wird sie von allen „Sorten“ von Menschen geschaffen und potentiell potenziell ist Kunst überall zu finden. Damit stellt sie jedoch der Ordnung ihrer Welt etwas entgegen, dass die bestimmenden Ränge (Klassen sind abgeschafft) der „Admins“ und der „Auswertung“ in ihrer Universalität zu bedrohen scheint. Wie sonst ist es zu erklären, dass die (größtenteils) harmlosen Experimente der „Aistheten“, einer Bewegung, die auf Feldeváye die Künste durch Nachahmung zu ergründen versucht, zu rigoroser Verfolgung führen? Wie kann es zum Krieg kommen und warum sonst wird gerade an dieser Frage und ihren Antworten sichtbar, dass die scheinbar grenzenlose Welt der Romangegenwart von Hierarchien und Dogmen durchzogen ist? Kathrin, „die wäre früher Künstlerin geworden“, und als potentielle Künstlerin kann sie auch ein so weit entwickeltes System in seinen Grundfesten erschüttern.
Dietmar-Dath-Universen
Wie in Feldeváye lassen auch Daths Romane, Die Abschaffung der Arten und Pulsarnacht, die Gegenwart der Menschen räumlich wie zeitlich weit hinter sich, ohne sie dabei aus dem Blick zu verlieren. Gemeinsam ist den Texten neben ihrem unbegreiflich großen Maßstab (die erzählte Zeit in Die Abschaffung der Arten umfasst mehrere Jahrtausende, der Raum in Pulsarnacht wie in Feldeváye gleich mehrere Galaxien) auch die Technik des ‚cognitive estrangement‘. Der Science Fiction Theoretiker Darko Suvin bestimmte darin die wichtigste Eigenschaft von Science Fiction, die es verdiene diesen Namen zu tragen. Echte Science Fiction zeichne sich eben dadurch aus, dass sie mehr biete, als verkleidete Ritter und Helden in Raumschiffen, sie sei von einem „Novum“ determiniert, dessen „Gültigkeit durch die Logik der Erkenntnis legitimiert“ werde.
Daths Universen, und das gilt besonders für Feldeváye, beschränken sich weder darauf, die Exotik absolut fremder und unerreichbarer Welten auszumalen noch darauf, die Fremdheit als bloße Verkleidung der Wirklichkeit zu benutzen. Im Modus des Gedankenexperiments (Was wäre wenn … es keine Kunst mehr gäbe, man durch das gesamte Weltall reisen, seinen Körper nach Wunsch modellieren oder mehrere Menschenalter lang leben könnte?) lässt sich die Erzählhaltung dieser Romane vielmehr als ‚realistisch‘ beschreiben. Insofern als sie zwar einen enorm erweiterten Möglichkeitsbegriff anlegt, jedoch die Komplexität von sozialen Beziehungen nicht dem zum Opfer fallen lässt.
Die Unbeherrschbarkeit von sozialen Gebilden, komplexen technologischen Systemen und ebenso von „Natur“ und „Kunst“ ist bei Dath aber nicht als unabwendbares, dunkles Schicksal oder bloße faschistoide Phantasie abzutun, sondern als Aufgabe anzusehen. Solche Diskurse zu eröffnen, um dann (im Nachwort zu Feldeváye) zu schließen „Lass mal, ist nur ein Roman“), ohne Enttäuschung zu verursachen, schafft nur ein wirklich begabter Erzähler.