Sehnsucht nach Wirklichkeit

Lethen_Der Schatten des Fotografen Quelle: Rowolt Verlag BerlinDer vor wenigen Tagen in der Kategorie Sachbuch/Essayistik mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnete Kulturwissenschaftler Helmut Lethen lehrt uns in Der Schatten des Fotografen das Sehen und das Lesen von Bildern. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist dabei die Suche nach der Wirklichkeit in und hinter den Bildern – eine Suche, die überraschende, aber dennoch großartige (Um)Wege beschreitet.

von KATJA PAPIOREK

Da erwartet man einen fototheoretischen Essay – und dann steht am Anfang des Textes gar keine Fotografie, sondern ein Gerücht: Im April 1952 soll der Küster des Münsters St. Marien in Mönchengladbach seine Frau ermordet und die Leiche im Gotteshaus versteckt haben. In der Fantasie des damals 13-jährigen Lethen entstehen durch dieses Gerücht Bilder, die sich weit mehr in sein Gedächtnis eingeprägt haben, als etwa die vermeintlich traumatischen Aufenthalte in Luftschutzkellern während seiner Kindheit. Es geht also gar nicht nur um Fotografien, sondern auch um Performances, Ausstellungen, Skulpturen, Filme, Bücher, Theorien und eben Gerüchte. Das verbindende Element ist dabei die Frage nach der Wirklichkeit und dem Wesen der Bilder. Natürlich ist das keineswegs neu. Erwähnenswert wäre etwa Roland Barthes Die helle Kammer. Tatsächlich weisen die Texte von Barthes und Lethen einige Parallelen auf, vor allem im Hinblick auf die jeweilige Herangehensweise. Auch Barthes’ Text ist keine theoretische Abhandlung, sondern eher ein literarischer Text, dessen Ausgangspunkt eigenes Erleben und eigene sinnliche Wahrnehmung sind.

Stationen der Selbstbildung

Helmut Lethen kündigt nun gar einen Bildungsroman an. Darin wird er selbst zum Protagonisten einer jahrzehntelangen Suche, an deren Verlauf er den Leser teilhaben lässt. Doch diese Suche verläuft nicht geradlinig. „Der Gang der Abhandlung wird vielmehr hin- und hergetrieben.“ Dem Gattungsvorbild entsprechend beinhaltet die Reise zur Wirklichkeit der Bilder eben auch Irr- und Umwege. So changiert der Text zwischen Sehnsucht und Skepsis, Nähe und Distanz. „Wenn Berührung das Ziel der Reise ist, erhöhen Umwege oft den Reiz des Unternehmens.“ Dabei stellt Lethen dem Text keine These voran, die es im weiteren Verlauf zu beweisen gilt. Vielmehr reflektiert er die eigene Herangehensweise und macht diese damit zum Gegenstand des Textes (das wird sich – so viel sei vorweggenommen – natürlich am Ende als cleverer Schachzug erweisen) und liefert ganz nebenbei einen kursorischen Abriss der Kulturwissenschaft des 20. Jahrhunderts.

Geht es um die Frage nach der Wirklichkeit von Bildern, lässt sich allgemein ein Schwanken, eine gewisse Unentscheidbarkeit feststellen. Einerseits verstehen wir Fotografien als Abdruck dessen, was gewesen ist. Folglich bilden sie die Realität ab. Gleichzeitig steht aber jedes Foto unter Generalverdacht, bearbeitet, manipuliert oder gestellt zu sein. Ist also entscheidend, was sich hinter den Bildern verbirgt? Welche Gefahren bedeutet ein solches „Vorder- und Hintergrund-Denken“? Lethen geht diesen Fragen nach, indem er ausführlich über verschiedene Beispiele aus der Kunst-, Kultur- und Fotografiegeschichte nachdenkt. Bezugshorizonte sind auch hier seine eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen. Er wählt „Bilder, die Folgen haben“, die sein Denken beeinflussen, ihn nicht mehr loslassen – Barthes spricht in solchen Fällen vom punctum. Gemeint ist damit „jenes Zufällige an ihr [der Fotografie], das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft)“ (Barthes), das Besondere, das dem Betrachter als solches ins Auge fällt, ohne dass es sich in Sprache übersetzen lässt.

Ikonen der Wirklichkeit

Absolut herausragend ist Lethens Text, wenn er sich mit ikonischen Fotografien beschäftigt wie Robert Capas D-Day-Foto Landing of the American troops on Omaha Beach (1944), das seinen vermeintlichen Wahrheitsgehalt einem Unfall im Labor zu verdanken hat, oder Dorothea Langs Migrant Mother (1936), einer Fotografie, der vorgeworfen wird, die Wirklichkeit absichtsvoll zu verschweigen. Im Hinblick auf die Suche nach der Wirklichkeit ist aber wohl die Fotografie auf dem Buchumschlag von Der Schatten des Fotografen die entscheidende. Zu sehen ist eine Frau, die mit hochgerafftem Rock einen Fluss durchquert. Erst der Hintergrund – hier ganz wörtlich die Rückseite des Fotos – gibt Aufschluss darüber, was wir sehen: Eine Frau, die als lebende Minensuchmaschine missbraucht wird (Die Minenprobe. Vom Donez zum Don, 1942).

Was ist nun also die Wirklichkeit in und hinter den Bildern? Was ist das Wesen der Fotografie? Kann ein Bild für sich allein sprechen, oder bedarf es der Kommentierung eines begleitenden Textes? Benötigen wir den Kontext, den Hintergrund eines Bildes? Lethen lässt sich von dieser „Wellenbewegung“ mitreißen – ohne sich jedoch auf eine Seite zu schlagen. Er durchdenkt die verschiedenen Ansätze, testet und dokumentiert. Am Ende steht keine Theorie, sondern die Unentscheidbarkeit. Damit wird klar, dass der Text von Beginn an genau daraufhin ausgerichtet war. Was bleibt ist die Sehnsucht nach der Wirklichkeit.

Helmut Lethen: Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit
Rowohlt, 272 Seiten
Preis: 19,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-586-9

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