Uwe Kolbe gelingt mit seinem Roman Die Lüge ein seltenes Meisterstück – ein Buch, das aufwühlt ohne je die strenge Linie seiner Nüchternheit und Kühle zu verlassen; ein faszinierendes Psychogramm zweier Männer, die bewundert gehören für ihre Gradlinigkeit und verabscheut für ihre Moral. Es ist die Geschichte einer Suche nach der Wahrheit, die man am Ende – wie so oft – lieber nicht wahr haben möchte …
von ANNA KREWERTH
„Love, lie and be handsome for tomorrow we die“, heißt es in James Joyce’ Ulysses und irgendwie scheinen sich diesen Satz Vater Hinrich Einzweck und sein Sohn Hadubrand („Harry“) zum Lebensmotto auserkoren zu haben. Der Vater ist ein Idealist aus dem Bilderbuch und widmet sein Leben dem Dienst der Einheitspartei, während der Sohn, ein aufsteigender Stern am Komponistenhimmel, sich mit dem politischen System „der Republik“ (im Roman nie offen DDR genannt) zu arrangieren weiß. Was der Vater dem Sohn vererbt hat – das wird relativ schnell deutlich – ist nicht nur ein lockeres Moralverständnis, sondern vor allem der Leitsatz „jeder ist sich selbst der Nächste.“ Da überrascht es wenig, dass die ein oder andere Liebschaft auf der Strecke bleibt, Ehen geschieden, Kinder verlassen werden und schließlich gar offen bleibt, von wem nun der Sohn der gemeinsamen Bettgefährtin ist, die erst den Vater, später den Sohn heiratet. Das nennt man dann wohl „schöne Familienverhältnisse“.
Ein Land der Heuchler und Betrüger
Nicht nur in menschliche Abgründe lässt Kolbe blicken, sondern auch in gesellschaftliche. Da heißt es „Ade Ostalgie“ und „Hallo schäbige Wirklichkeit“, denn hinter der blanken Fassade schlummern die Spitzel und Verräter – auch in der eigenen Familie. Das Land, das Kolbe schildert, ist eines, das an seinen hohen Idealen scheitern muss und durch seine diktatorisch anmutende Vereinheitlichung Menschen vom Typus Einzweck schafft: Lügner. Der Titel Die Lüge klingt dann auf ganz unterschiedlichen Ebenen an: Die beiden Protagonisten belügen die, die sie lieben, und einander und wissen – oder scheinen zumindest gleichzeitig zu wissen – was die eigentliche Wahrheit ist. Harry lehnt eine Mitarbeit für die Stasi zwar mit der Begründung „Ich kann nicht lügen“ ab, doch zum Betrüger scheint er gut zu taugen. Dabei geht es hier vielleicht auch weniger um tatsächliche Lügen als um verschwiegene Wahrheiten. Die „DDR“ als idealer, gemeinschaftlicher Staat ist ein Lügenkonstrukt und der Alltag der Figuren: Liebe, Familie, Beruf, ist es auch.
Vom Apfel und dem Stamm
Dennoch wirkt es so als hätten sich Vater und Sohn gar nichts anderes wünschen können als diese große Welt der Scheinheiligkeit, die Ersterer sich zur Heimat wählt und Letzterer als solche vorfindet. „Mein Vater ist der Einzige weit und breit, der überhaupt kapiert, was ich mache. Er ist stolz auf mich“, heißt es an einer Stelle von Harry Einzweck. In diesem Ausspruch äußert er indirekt die Einsicht, dass zwischen den beiden eine „Verwandtschaft“ besteht, die über bloße Blutsbande hinausreicht. Diese findet sich am deutlichsten in der formalen Komposition des Romans gespiegelt: Die Geschichte des Sohnes schildert Kolbe aus der Ich-Perspektive, die des Vaters aus der Er-Perspektive. Die Verschmelzung der Erzählerfiguren im vorletzten Kapitel verdeutlicht so das Hervorgehen des einen aus dem anderen und offenbart, dass sie eigentlich eins sind. Der Leser, am Anfang durch die unterschiedlichen Weltanschauungen der beiden in die Irre geführt, muss erkennen, dass alle vergeblich gesuchte Sympathie und die vermeintlich zugrundeliegenden Motive für ihr Handeln, nicht zu finden sind. Die Lüge, die am Ende stehen bleibt, ist die Illusion, es könnte anders sein.
Ebenen der Glaubwürdigkeit
So raffiniert Kolbes Jonglieren mit „Lügen“ und „Wahrheiten“ auf konkreter und abstrakter Ebene gleichermaßen ist, weist sein Roman auch Schwächen auf. Da wäre beispielsweise die scheinbar unwiderstehliche sexuelle Anziehungskraft der beiden Protagonisten. Nicht einmal die vormals schwanger sitzengelassene Freundin, die längst wieder glücklich liiert ist, kann sich dieser entziehen, weshalb man dann auch stringenter Weise direkt auf dem Boden im Wohnungseingang zueinander findet. Überhaupt lassen sich die stilistisch sicher absichtlich blass belassenen Frauenfiguren bei Kolbe so einiges gefallen…die Einzwecks haben da offensichtlich doch überzeugende Argumente, die dem Leser nur verborgen bleiben? Auch hinkt die an einigen Stellen anzitierte Analogie zwischen dem Betrug in der Liebe und dem politischem Verrat – beides lässt sich wohl nicht so leicht über einen Kamm scheren, wie es hier mitunter den Anschein hat.
Die Lüge ist dennoch ein konsequentes Buch. Eines, das Lügner entlarvt und unangenehme Wahrheiten auszusprechen vermag. Ein Roman, der gerade durch seine stilistische Neutralität eine immense Wirkmacht entwickelt und mit dem Porträt zweier Männer die schwarze Zukunft einer ganzen Gesellschaft heraufbeschwört: „Lauter Väter, lauter Täter [… ]“. Und mit dem Ende beginnt eine neue-alte Geschichte – die der dritten Generation.
Sehr gute Rezension! Ich fand das Buch allerdings sprachlich teilweise doch recht … sperrig. http://buecherwurmloch.wordpress.com/2014/03/06/uwe-kolbe-die-luge/