Tigermilch, das Gemisch aus Milch, Maracujasaft und Mariacron, das dem Debütroman von Stefanie de Velasco seinen Titel gibt, wurde bei der Lesung am 27. März 2014 in der Heldenbar des Grillotheaters in Essen leider nicht verköstigt – dies wäre aber auch wirklich eine zu große Sauerei gewesen! Die Ausschnitte des Textes der Oberhausener Schriftstellerin, vorgetragen von Tobias Roth, Anne Schirmacher und Silvia Weiskopf, verdeutlichten einmal mehr die Stärke dieses Romans, der die Situation der gegenwärtigen urbanen Gesellschaft Berlins und die Spannungen zwischen den dort ansässigen Kulturkreisen im Rahmen eines Coming-of-age-Romans zu verbinden weiß.
von JAN FREDERIK BOSSEK
SAD – Nico, Kumpel der vierzehnjährigen besten Freundinnen Nini und Jameelah, hinterlässt dieses Tag überall als Graffiti in Berlin. Und immer, wenn Nini, die Protagonistin und Ich-Erzählerin des 2013 erschienenen Romandebüts, den Schriftzug auf Gebäudewänden erblickt, fühlt sie sich getröstet und nicht mehr allein. Vor solch einem SAD interpretierten die drei Vorlesenden in der Heldenbar Szenen aus der ersten Hälfte von Tigermilch. Alles scheint zunächst unbeschwert, obwohl Jameelah und ihrer Mutter die Abschiebung in den Irak droht. Kulturelle Differenzen ergeben noch keine Probleme, und der einzige Plan der zwei Freundinnen für die anstehenden Sommerferien besteht darin, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren.
Doch nach und nach wird es dann doch traurig, wie Nicos Wandbemalungen schon andeuten. In einer Nacht, in der die beiden Mädchen einen Liebeszauber auf dem Spielplatz vor den heimischen Plattenbauten praktizieren, um Jameelahs Schwarm Lukas zu beeinflussen, werden sie Zeuginnen eines Ehrenmords. Negativste kulturelle Realität dringt in die sorglose Tigermilch-Atmosphäre ein. Es ist nun nicht mehr der Sex, der die Mädchen in den Ferien beschäftigen wird, sondern die Grausamkeit der „verfaulten Welt“, wie Nini und Jameelah selbst diagnostizieren. Die Freundinnen sehen sich quälenden Fragen ausgesetzt, die ihre Beziehung zueinander auf die Probe stellt: zur Polizei gehen und den Mord bezeugen? Oder lieber schweigen, um zu verhindern, dass sich die Gewaltbereitschaft gegen einen selbst richtet? Jameelah möchte nicht zur Polizei, um ihre noch mögliche Einbürgerung nicht zu gefährden, Nini hat das Gefühl, dem Druck des Gesehenen nicht standhalten zu können.
Smells Like Teen Spirit
Die Ensemblemitglieder lasen in einer Kulisse, die einem Jugendzimmer glich und sich so in das Thema des Romans einfügte. Liegend trugen die Schauspieler auf dem Bett oder hockend auf dem Tisch vor, umringt von Ringelsocken, die die Protagonistinnen tragen, wenn sie auf der Kurfürsten Männer „zum Üben“ abschleppen. Anne Schirmacher als Nini und Silvia Weiskopf als Jameelah vertonten die Dialoge zwischen den Mädchen flüssig und eingespielt, wie ein Sätze-Ping-Pong junger Menschen. Tobias Roth übernahm die übrigen Rollen. Die Lesung ließ den Eindruck entstehen, sich mitten im Kreis dieser Teenager zu befinden. Beeindruckend waren die Passagen, die die Schauspieler zu zweit oder zu dritt synchron sprachen, und damit durch ihre inszenierte Vielstimmigkeit eine weitere Perspektive auf den Text entwarfen.
Mit knapp einer Stunde Lesezeit fiel die Darbietung knapp aus, was aber dem Anspruch geschuldet sein kann, lediglich einen Einblick in den Text zu geben und nicht das Ende des Romans zu verraten. Ein kurzweiliger Spaß, der noch einmal aufgezeigt hat, wie treffend de Velasco jugendliche Probleme mit der Gewalt kontrastiert, die sich um Nini und Jameelah abspielt.