Ausgehend von der Schweiz erzählt Dorothee Elmiger in ihrem zweiten Roman Schlafgänger von Grenzregionen und ihren Passagieren. Dabei trifft eine innovative literarische Form auf politisch aktuelle Fragen. Heraus kommt ein Romangeflecht treu der Überzeugung, dass nur ungelöste Rätsel auch morgen noch spannend sein werden.
von SIMONE SAUER-KRETSCHMER
In der Schweiz wird es zu eng: vom sogenannten „Dichte-Stress“ war gar die Rede, zumindest seitens der rechtsgerichteten Schweizerischen Volkspartei (SVP), die in ihrem Begehren, die „Masseneinwanderung“ in die Schweiz zukünftig zu beschränken, Anfang Februar per Volksabstimmung bestätigt wurde. Welche Konsequenzen dieses Votum letztlich für die Schweiz, für die dort seit Jahren lebenden und die zukünftigen Einwanderer, die angrenzenden Staaten und nicht zuletzt die EU haben wird, ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar. Wie weitreichend sich jedoch die nun zu stellenden Fragen ausnehmen, demonstrierte in den letzten Wochen u.a. die Journalistin Sarah Jäggi in der Zeit, die darüber spekulierte, wie sich die Volksabstimmung auf den Schweizer Arbeits- und Wohnungsmarkt auswirken könnte und welche möglichen Folgen sich bspw. auch für den akademischen Wissenstransfer zwischen Schweizer Forschern und dem Ausland ergeben.
Der Roman Schlafgänger der in der Schweiz lebenden Schriftstellerin Dorothee Elmiger kommt zu diesem Zeitpunkt gerade recht, obwohl man der Autorin mit einem solchen thematischen Brückenschlag allein nicht gerecht wird, denn hier geht es um weit mehr: Ein Logistiker, dessen Haus nah an der Grenze steht, kann nicht mehr schlafen. Er leidet nicht unter Einschlafproblemen oder Schlafstörungen im gemeinen Sinne, ihm ist der Schlaf regelrecht abhandengekommen. Seine Gedanken sind rastlos, schweifen ab in die nahegelegenen Wälder, durch die Menschen streifen, die den Schutz der Dunkelheit brauchen, um das Ziel ihrer Wanderung unbehelligt zu erreichen, sofern sie selbst es überhaupt kennen. Flüchtlinge sind dort unterwegs, Schmuggler und all jene, die von einem Ort zum anderen kommen wollen, ohne von der Polizei oder dem Zoll aufgegriffen zu werden. Der Logistiker rekapituliert die Schlagzeilen der Tageszeitungen, das Radio läuft immerfort und ein Journalist ruft ihn häufig an, der von der Überfüllung des grenznahen ‚Empfangszentrums‘ und von Fingerkuppen berichtet, die man sich an rauen Wänden bis zur Unkenntlichkeit abschürft, um der sofortigen Identifizierung der Person zu entgehen.
Rückkehr der Schlafgänger
„Who’s there?“ rufen Elmigers Protagonisten getreu der Shakespeares „Hamlet“ eröffnenden Frage, sobald die Tür sich erneut öffnet und eine weitere Gestalt den seltsam ortlosen und doch über unzählige Perspektiven verfügenden Raum des Romans betritt. Doch was bewachen die hier Anwesenden und welches Gespenst wird ihnen antworten? Dass diesem Wissen-Wollen keinesfalls mit der Nennung eines Namens Genüge getan wird, zeigen die fragmentarischen Erinnerungen der Figuren, deren Wahrheit so vorläufig zu sein scheint wie der Akt des Reisens, den Schlafgänger für die einen als befreiende Bewegung, für die anderen als nahezu alternativloses Rennen vorführt. Die dem Roman den Titel verleihenden Schlafgänger, auch Bettgeher genannt, gehören dem Ursprung nach in die moderne Großstadt des 20. Jahrhunderts, in der der Wohnraum zu knapp geworden ist und die arbeitsuchenden Massen auf die stundenweise Vermietung privater Betten angewiesen waren. Doch Elmigers Roman betont mehrfach, dass er eine Geschichte von heute erzähle, wenn die Schlafgänger der Gegenwart als Gespenster geographischer Grenzen auftauchen, die längst auch im gefährlichen Innehalten des Schlafens keine Ruhe mehr finden.
Gleich mehrere Figuren des Romans stellen Verbindungen zwischen den verschiedenen Welten her, die sie durchqueren: eine Schriftstellerin, welche von einer Frau namens A.L. Erika verfolgt wird, und eine Übersetzerin, die mit der Sprache hadert. Allesamt fühlen sie sich von der Geschichte des Künstlers Jan Bas Ader angezogen, der während einer Atlantiküberquerung im Jahre 1975 verschwunden und nie wieder aufgetaucht ist. Denn eines der zentralen Themen in Aders Videokunst ist der Aspekt des Fallens, der auch in Elmigers Schreiben seinen soghaften Reiz entfaltet.
Kartografische Netze
Elmigers Schlafgänger ist politisch hochbrisant, doch das sind nicht wenige Romane. Die Kunst der Autorin liegt vielmehr darin, nicht bloß vordergründig über Politik zu schreiben, sondern globale Bewegungen als Voraussetzung ihrer Geschichte zu nutzen und dem Leser das Denken dabei nicht abzunehmen. Elmiger spinnt feine Fäden und Bezugspunkte zwischen den Erzählenden, die sich wie kartografische Netze zu einem Text zusammenfügen, der mal näher und mal ferner erreichbar scheint. Überzeugend ist der Roman schließlich wegen seines besonderen Verhältnisses zwischen Inhalt und Form: Hier geht, reist und schreibt man, als wäre hellwach noch nicht wach genug, und als könnte im nächsten Augenblick das eigene Verschwinden unausweichlich werden. Ob dies dann ein Verlust oder ein Gewinn sein wird, ist ungewiss. Sicher ist – um es mit den Worten Jan Bas Aders zu sagen – nur eines: „All is Falling“. Nur die Grenzen nicht.