Katja Petrowskaja geht in Vielleicht Esther den Geschichten ihrer ursprünglich jüdischen Familie auf den Grund: Berichte ihrer Recherchen in Warschau, Mauthausen, Auschwitz und ihrer Heimatstadt Kiew verbindet sie kunstvoll mit eigenen Erinnerungen. Trotz der schweren Thematik gelingt ihr so ein verblüffend leichtgewobenes Textgeflecht – der Versuch, die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts und deren Auswirkungen auf Einzelschicksale in eine dichte, berührende Erzählung zu binden.
von LINA BRÜNIG
Literarische Verarbeitungen der Shoa gibt es unüberschaubar viele, zumal nun – 69 Jahre nach Kriegsende – auch die Enkelgeneration vermehrt beginnt, sich dieses Themas anzunehmen. Katja Petrowskaja wurde 1970 in Kiew geboren, studierte in Estland Literaturwissenschaft und lebt seit 1999 in Berlin. In ihrer Person treffen osteuropäische Herkunft, persönlich-familiäre Betroffenheit, die Liebe zur deutschen Sprache und vor allem eine außergewöhnliche schriftstellerische Begabung in einer Weise aufeinander, die ihr Debüt Vielleicht Esther zu einem Ausnahmetext macht.
Geschichte persönlich nehmen
Petrowskaja präsentiert sich in dieser Geschichtensammlung in sieben Kapiteln als äußerst reflektierte und sensible Erzählerin, die den Leser an ihrer Suche nach den Ursprüngen familiärer Legenden teilhaben lässt: Warum verübte ihr Urgroßonkel 1932 in Moskau ein Attentat auf den deutschen Botschafter? Welche Umstände führten dazu, dass ihr Großvater erst 41 Jahre nach Kriegsende zu seiner Frau zurückkehrte? Und warum folgte ihre Urgroßmutter, jene titelgebende Frau, die vielleicht Esther hieß, 1941 dem Appell an die Kiewer Juden sich auf den Weg nach Babij Jar zu machen, obwohl sie die Möglichkeit hatte, in ihrer Wohnung zu bleiben? Es geht der Enkelin Petrowskaja eigentlich nicht um die Beantwortung dieser Fragen. Vielmehr bezieht sie die Lücken in den jeweiligen Geschichten mit in ihre Überlegungen ein und macht dadurch zunächst sinnfällig, dass nicht alles rekonstruierbar ist, dass aber manchmal Fragmente auch ausreichen, um etwas zu erzählen, wenn wir „alle Teil eines großen Epos sind, ein nur zufällig beleuchteter Teil davon, eine kleine Strecke.“
Geschichte wörtlich nehmen
Als Petrowskaja mit der Erzählung Vielleicht Esther den letztjährigen Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, sprach Jurorin Hildegard Keller von einem „großen Geschenk an die deutsche Sprache.“ Und wirklich – der Text ist von einer ständigen Wechselwirkung zwischen der Muttersprache Russisch und der Sehnsuchtssprache Deutsch geprägt. Dieses Zusammenspiel führt zu fruchtbaren Irritationen: „Sie hatten nicht alle Tassen im Schrank, obwohl man auf Russisch nicht alle Tassen sagt, sondern Hast du nicht alle zu Hause? Ich hatte Angst vor dieser Frage, obwohl meine Babuschkas fast immer zu Hause waren.“
Immer wieder nimmt Petrowskaja die Dinge wörtlich und erzeugt so einen merkwürdig-faszinierenden Zwischenzustand, indem sie sich den Zusammenhängen fast spielerisch nähert:
„Engels kannten wir, er hat Der Ursprung der Familie geschrieben und war mit Marx befreundet, er hieß einfach Engels, Klassiker hatten kurze, klangvolle Namen und waren immer im Profil zu sehen, und immer alle zusammen, sie blickten nicht uns entgegen, nur der Zukunft, Karl Marx, wie zwei Schüsse oder wie ein Befehl, im Gleichschritt, Marx! (…) Karl Liebknecht dagegen, mit seinem krächzenden Stottern, hatte kein Profil, Karl, mein lieber Knecht mit Krücken, niemand kannte ihn, und schon deswegen war er mir lieber, vielleicht weil ich sein Verhängnis am Kanal spürte.“
Durch die Einnahme dieser distanziert-analysierenden Erzählhaltung erreicht sie, dass Vielleicht Esther keine Betroffenheitsliteratur geworden ist, sondern ein eigenartiger Text – im Wortsinn.
Das Verschwundene wiederfinden?
In den Berichten ihrer Recherchereisen beweist Petrowskaja nicht nur große gedankliche Tiefe sondern auch ein besonderes Gespür für die Symbolträchtigkeit bestimmter Zusammenhänge. So erzählt sie, dass in einer polnischen Stadt nach der Deportation der dortigen Juden der jüdische Friedhof aufgelöst und die Grabsteine zersägt und mit der Schrift nach unten als Pflastersteine verwendet wurden: „Es war ein System der Vernichtung mit mehrfacher Sicherung. Ob man davon weiß oder nicht, jeder, der die Straßen von Kalisz entlanggeht, tritt die Grabsteine mit Füßen.“
Sehr eindrücklich ist auch ihr Besuch in Babij Jar, jener Schlucht in Kiew, in der 1941 innerhalb weniger Tage 33.000 Menschen getötet wurden. Die Schlucht ist heute ein Park, in dem Menschen Sport treiben und ihre Freizeit verbringen: „Bleibt ein Ort derselbe Ort, wenn man an diesem Ort mordet, dann verscharrt, aushebt, verbrennt, mahlt, streut, schweigt, pflanzt, lügt, Müll ablagert, flutet, ausbetoniert, wieder schweigt, absperrt, Trauernde verhaftet, später zehn Mahnmale errichtet, der eigenen Opfer einmal pro Jahr gedenkt oder meint, man habe damit nichts zu tun?“
Letztendlich zeigt Petrowskaja aber vor allem, dass sich die Vergangenheit eben nicht so einfach recherchieren, verarbeiten und abheften lässt, wie es zunächst den Anschein haben könnte. „Ich hatte gedacht, man braucht nur von diesen paar Menschen zu erzählen, die zufälligerweise meine Verwandten sind, und schon hat man das ganze zwanzigste Jahrhundert in der Tasche.“ Doch so einfach macht sie es sich und den Lesern nicht. Zwar weiß die Literaturwissenschaftlerin Petrowskaja um die heilende Kraft von Erzählungen, darum, dass die grausamsten Erlebnisse erträglicher werden, wenn sie in eine kohärente Geschichte eingearbeitet werden. Aber je mehr sie über die Vergangenheit herausfindet, desto mehr begreift sie, „dass ich keine Macht über die Vergangenheit habe, sie lebt, wie sie will, sie schafft es nur nicht zu sterben.“
Selten genug kommt es vor, dass man ein Buch liest und denkt: instant classic. Katja Petrowskajas Vielleicht Esther ist so ein Buch.
Es klingt nach einem Buch , dass man gelesen haben muss. Habe es gestern bereits in den Händen gehalten und konnte mich lange nicht zwischen diesem und einem anderen Buch entscheiden.
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