Vorweg: Dies ist kein klassischer Nachruf. Wer den erwartet, dem empfehle ich die Texte von Gregor Dotzauer und Richard Kämmerlings. Dies ist auch kein literaturwissenschaftlicher Text, der das Œuvre eines Autors betrachtet. Dies ist eine kleine Liebeserklärung einer zwar ausgebildeten Literaturwissenschaftlerin, aber vornehmlich Leserin, an einen ihrer Lieblingsautoren.
von KATHARINA RICHTER
Ein Regalmetervoll mit Büchern steht von ihm in meinem Wohnzimmer. Fast die gesamte Prosa, nur einige Theaterstücke. Nicht alles ist gelesen. Ich wollte mir etwas aufheben, erst recht, seitdem Urs Widmer im Rahmen von Interviews zu seiner letzten Veröffentlichung, der Autobiografie Reise an den Rand des Universums, erklärte, dass dies vermutlich sein letztes Buch gewesen sein wird. Leider sollte er recht behalten. Am Mittwoch ist Urs Widmer nach schwerer Krankheit in Zürich gestorben.
Zu Widmer kam ich durch Zufall: Eine Rezension in der Zeit stellte mir seine bekanntesten Romane Der Geliebte der Mutter und Das Buch des Vaters vor, die zusammen mit dem Roman Ein Leben als Zwerg die Trilogie über (s)eine Familie bildeten. Frisch aus einem Seminar zu Intertextualitätstheorien kommend waren die drei Romane für mich das gefundene Fressen, zu versuchen, dem Erzähler und seiner Frage, wer sein Vater sei, auf die Schliche zu kommen. So wurde Urs Widmer zu ‚meinem‘ Autor. Jeder Neuveröffentlichung wurde entgegengefiebert und schon Wochen vor dem tatsächlichen Erscheinungstermin vorgemerkt, damit man bloß nicht warten brauchte.
Reisen an den Rand des Universums – Reisen nach innen
Ich wurde nie enttäuscht. Obwohl: Als Späteinsteigerin war sein Frühwerk für mich ungewohnt. Der subtile Wechsel zwischen Beschreibungen des Alltäglichen, die beinahe unmerklich in phantastische Welten führen, fehlt in seinen ersten Erzählungen und Romanen. Ich denke beispielsweise an den Initiationsritus, mit dem der Vater in Das Buch des Vaters in die Erwachsenenwelt aufgenommen wird – eine gefahrenvolle Waldwanderung, die ihn ins Dorf seiner Ahnen führt, in denen die zukünftigen Särge der Bewohner an Häuser gelehnt ein unheilvolles Bild zeichnen. In seinem Frühwerk wird, wenn auch mit viel Charme, Klamauk groß geschrieben. So wie in der als Abenteuerroman bezeichneten Forschungsreise, in der sich der Erzähler, seinem großen Vorbild Stanley (Henry Morton Stanley 1841-1904) folgend, voll ausgestattet auf eine Erkundung des städtischen Dschungels begibt: „Ich schleiche. Mit kaum geöffneten Augen, langsam, unmerklich, rücke ich bis zum Selbstbedienungsladen vor. Ich werfe mich hinter einen Stapel Kisten. Ich sehe durch die Ritzen, wie Autos durch die breite Allee fahren.“ Um schlussendlich nach unzähligen Abzweigungen wieder am Ausgangspunkt glücklich und zufrieden anzukommen.
Auch wenn Widmer in der Grazer Poetikvorlesung das Reisen verbieten möchte, ist es das verbindende Motiv des Werks. Ständig reisen seine Figuren, zu Fuß oder mit dem Heißluftballon, und begeben sich auf die Suche nach einer neuen Wahrheit, einem neuen Leben, nach Glück. Erst in seinem Spätwerk kommen die Figuren tatsächlich zur Ruhe – gereist wird weiterhin. Denn sowohl in seiner Autobiografie als auch in dem letzten Roman Herr Adamson wird das Reisen nun zu einem Durchmessen von Erinnerungslandschaften, einem Annähern an die eigene Vergangenheit. Wobei vor allem die Autobiografie dazu einlädt sein Werk biografisch zu lesen. Wie häufig ertappte ich mich beim Lesen dabei, Szenen aus seiner Autobiografie mit denen seiner Werke zu vergleichen und Gemeinsamkeiten festzustellen, um am Ende lachend das Buch beiseite zu legen und mich zu freuen, wie Widmer es geschafft hat, mich an der Nase herum zu führen und mich glauben zu machen, man würde ihn kennen, wo er es doch – wie in der Grazer Poetikvorlesung zugegeben – selbst nicht tut.
Der ganz eigene Autor
Und genau jene Vorlesung ist es, die mich nun tröstet, trotz seines Todes und dem Wissen, dass keine Vorfreude ob der Veröffentlichung eines neuen Romans, neuer Erzählungen, mehr aufkommen wird. Hier beschreibt er ganz allgemein, was mir so schwer fällt, über ihn in Worte zu fassen: „Ein Leser, ein autonomer Leser, muß langsam zu wählen lernen. Zu spüren, welches sein Buch ist und welches nicht. Im Lauf eines Lebens, das ist meine Erfahrung, hat man dann vielleicht acht oder zehn Autoren versammelt, die wirklich zu einem sprechen, wirklich und ganz und erregend. Man erkennt diese ganz eigenen Autoren daran, daß man ganz ohne Zwang und ganz wirklich versucht, alles von ihnen zu lesen, auch das ‚Abgelegene‘ und das ‚Unbedeutende‘. Wir lesen sie, weil wir schon den Klang ihrer Stimme lieben.“ Ich freue mich auf die noch ungelesenen Bücher, in denen er mich wieder auf Reisen mitnehmen wird. Danke Herr Widmer, Sie werden mir fehlen.
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