Der letzte Sommer

Urs Faes_Sommer in Brandenburg   Cover SurhrkampSommer in Brandenburg – was sich für heutige Ohren so idyllisch anhört wie eine Fahrt durch die Bronx, ist im Jahre 1938 tatsächlich die Bastion eines trügerischen Friedens. Urs Faes erzählt in seinem neuen Roman von einer Liebe, die angesichts der Tristesse ringsherum nur Augen füreinander hat.

von KARIN BÜRGENER

In aller Herrgottsfrühe aufstehen, Holz hacken, Tomaten ernten, Äcker umgraben – nein, wir befinden uns nicht in einem Arbeitslager, auch wenn vieles im brandenburgischen Hachschara-Zentrum daran erinnert. Eltern schicken in den 1930er Jahren ihre heranwachsenden Kinder hierhin, in der Hoffnung, ihnen so eine Ausreise nach Palästina zu ermöglichen. Die Sprösslinge aus der Stadt, allesamt im Teenageralter, haben für Feldarbeit und Religion eigentlich nicht viel übrig. Doch da Vertreibungen aus den eigenen Häusern, Theater-, Kino- und Ausgehverbote, Verhaftungen und weitere Pogrome ihnen kaum eine Wahl lassen, fügen sie sich den widrigen Umständen, schwitzen auf dem Feld und pauken nach getaner Arbeit Hebräisch.

Beschwerliche Gegenwart, ungewisse Zukunft

Aus allen Ecken des annektierten Europas kommen die jungen Menschen, die in der Ferne als Pioniere Kibbuzim aufbauen und dafür das nötige Handwerk erlernen sollen – und so lernen sich der Hamburger Ron und die Wienerin Lissy kennen. Abgeschottet auf dem Landgut und zunächst noch fast unbehelligt von der benachbarten Hitlerjugend, Gestapo und SS, finden die beiden schnell zueinander. Sie hoffen, gemeinsam die begehrte Einreiseerlaubnis ins Heilige Land zu bekommen, die von der britischen Regierung nur sporadisch gewährt wird. Wer zu den glücklichen Ausreisenden gehört, entscheidet sich anhand von Ausbildungszeit und Gefährdung in der Heimat. Ihren ersten Sommer, von dem sie nicht wissen, ob es ihr letzter sein wird, verbringen Ron und Lissy wie Millionen andere Paare auch: Sie halten einander an den Händen, gehen spazieren und tanzen und suchen nach Plätzen für geheime Rendezvous.

Während sie auf Ausreisepapiere warten und der Sommer zum Winter wird, schaltet sich jedoch zunehmend die Wirklichkeit ein. Verwandte werden in Konzentrationslager deportiert oder bekommen ein Berufsverbot auferlegt, sie selbst werden aus umliegenden Dörfern vertrieben, ab und zu wird einer der Kameraden verhaftet. Gerüchte von einem drohenden Krieg erreichen die Gemeinschaft und schüren die Angst vor einem baldigen Ausreiseverbot. Einige von ihnen machen sich nach einem entbehrungsreichen Winter auf eigene Faust auf, um illegal nach Palästina auszureisen – ein oft lebensgefährliches Wagnis, dem sich die Verliebten nicht anschließen. Zwar tun sie nicht etwa so, als würde sie das alles nichts angehen – doch es scheint, als würde sie ihre Liebe vor Widrigkeiten beschützen. Doch wie lange noch?

Eine Mischung aus Dichtung und Wahrheit

Zwischendurch schaltet sich der Autor selbst ein und erzählt die Hintergründe, die ihn zu dem Roman inspiriert haben. Einige Landgüter wie dieses brandenburgische, das auf die Alija vorbereiten sollte, gab es tatsächlich vor dem Zweiten Weltkrieg. Doch vor allem ein Foto aus einem Archivfund trägt viel zu der Geschichte bei. Es ist auf dem Cover des Buches abgebildet. Hier sehen wir Ron und Lissy, über die in Wirklichkeit kaum etwas bekannt ist. Sie gehören zwar nicht zu den Namenlosen, doch zu den Geschichtslosen, ihrer Vergangenheit und vielleicht auch ihrer Zukunft beraubt. Faes spricht mit anderen ehemaligen Bewohnern des Landguts, mit solchen, die versuchen, Geschichte zu bewahren, und so fügt sich aus bruchstückhaften Fragmenten die Erzählung zusammen.

Wie für den Schweizer Autor (zuletzt erschien 2012 Paris. Eine Liebe) typisch, erzählt der Text einfühlsam und fesselnd von einer nahezu hoffnungslosen Liebe, ohne ins Kitschige oder Melodramatische abzudriften. Die Poesie des Alltags klingt vom Anfang bis zum ungewissen Ende auf jeder Seite nach, was angesichts der zeitlichen Umstände und feindseligen Umgebung fast unmöglich scheint. Eine ambivalente Geschichte, die sowohl Hoffnung als auch Ernüchterung in sich trägt.

Urs Faes: Sommer in Brandenburg
Suhrkamp, 262 Seiten
Preis: 19,95 €
ISBN: 978-3-518-42419-3

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