Aussteigerromantik, Selbstfindung, Grenzerfahrung – all das scheint Lorenz Langeneggers Bei 30 Grad im Schatten zu versprechen. Was der Roman stattdessen bietet, scheint wenig, ist aber so viel mehr.
von LARS BANHOLD
Nach zehn Jahren Ehe wird Walter von seiner Frau Edith verlassen. Auf sich selbst zurückgeworfen, packt er seinen alten Wanderrucksack aus Junggesellentagen mit dem Nötigsten, wirft die Schlüssel in den Briefkasten, pfeift auf die Kollegen im Amt und macht sich ohne Ziel auf den Weg. Seine Reise führt ihn von der gemeinsamen Wohnung in Bern zuerst nach Zürich und im Anschluss über Italien und Griechenland an den vermeintlich südlichsten Punkt Europas.
First World Problems
Das klingt erst einmal nach einem Abenteuer und einer spannenden Geschichte. Tatsächlich erweist sich Bei 30 Grad im Schatten vor allem als bemerkenswert ereignislos. Egal, wie weit Walter geht und was er tut, es will ihm einfach nichts wirklich Aufregendes passieren. Das wäre fatal, wenn Langenegger nicht so ein begnadeter Erzähler eines aufschlussreichen Themas wäre. Auf weniger als 150 Seiten seziert er in der Geschichte um Walters Reise einen Zustand, für den man in Zukunft wahrscheinlich ein eigenes Wort erfinden muss: die Situation jener privilegierten Mitteleuropäer zwischen Mitte Zwanzig und Ende Vierzig, die jede Sicherheit und alle Möglichkeiten, aber genau deshalb absolut keine Perspektive haben.
Langeneggers Protagonist ist der Archetyp dieses Phänomens. Als Steuerbeamter in der Schweiz gehört er mit Abstand zu den am wenigsten von Existenzängsten bedrohten Menschen der Welt, dabei versetzt ihn gerade diese Sicherheit in eine paradoxe Situation. Eigentlich hat er allen Grund, zufrieden zu sein – was Walter zunächst auch ist –, im Gegensatz dazu wird von ihm ein allgegenwärtiger Ehrgeiz erwartet, ständig „weiterzukommen“ und eben nie wirklich zufrieden zu sein. Er ist so vernünftig, verständnisvoll und mitfühlend, dass er das Ende der Ehe erkennt, ohne Gram hinnimmt und denkbar rücksichtsvoll darauf reagiert. Zugleich weiß er, dass von ihm eigentlich eine leidenschaftlichere Reaktion erwartet würde. Edith verlässt Walter nicht im Streit, es gibt keine Aussprache oder Diskussion, was „das Beste“ für beide sei. Nach Jahren der zunehmenden Entfremdung kommt lediglich, wie von selbst, eine doofe Bemerkung zu viel, die ein wortloses Verschwinden bedingt. Was bleibt, ist nicht etwa Trauer oder Liebeskummer, sondern ein dumpfes Gefühl der Unausweichlichkeit und des persönlichen Versagens. Letzteres weniger vor sich selbst als vor den von außen herangetragenen Erwartungen. Walter fühlt, dass er „falsch“ reagiert, obwohl oder weil er alles „richtig“ macht.
Existentialismus und Hundekotze
Und schließlich ist da Walters Flucht. Mit jedem Schritt entfernt sich Walter weiter von seiner sicheren Existenz bis an die Ränder der Zivilisation. Er trifft den in prekären Verhältnissen lebenden Historiker Jonas, die von der Eurokrise zurückgeworfene Griechin Natalia, den wirren Aussteiger William und den Straßenhund „Hey!“, bis er schließlich in einer Einsamkeit landet, in der er eine simple, fast existentialistische Grunderfahrung macht: dass da einfach nichts ist – keine Katharsis, keine Epiphanie. Er erkennt, wie irrelevant das Ende seiner Ehe letztlich ist und vor allem, dass es nur einer kleinen Änderung der alltäglichen Routine und etwas drückender Hitze bedurfte, um das zu sehen.
Nicht nur in der Bedeutung der Hitze, auf die der Titel bereits indezent hinweist, sowie in seiner absurdistischen Moral ähnelt Langeneggers Roman Camus’ Der Fremde, sondern insbesondere in seinem Stil. Es ist bemerkenswert, mit welcher Gelassenheit hier eine so einfache Sprache so effektvoll eingesetzt wird. Langenegger zieht sich nicht in prätentiöse Virtuosität oder bemüht „reduzierte Sprache“ zurück, sondern zeigt sich in seiner Einfachheit als – wie bereits erwähnt – begnadeter Erzähler; eine Fähigkeit, die man schon 2009 bei seiner Lesung bei den „Tagen deutschsprachiger Literatur“ bestaunen konnte. Langenegger verfällt trotz teilweise gesunder Distanz zu seiner Hauptfigur nicht einen Moment in Zynismus, was sich durchaus anböte, oder Kitsch, sondern meistert ganz entspannt eine Königsdisziplin des Erzählens: die alltägliche Belanglosigkeit ohne aufgeblasene, sichtbare Finesse so darzustellen, dass man trotzdem jeden Satz mit Spannung und Genuss verschlingt; so zu erzählen, dass in der Beschreibung einer Pfütze aus Hundekotze eine tiefe, elementare Wahrheit aufblitzt.
Einziger Wermutstropfen ist das letzte Kapitel, welches mit etwas weniger Sicherheit und Können versucht, den gesamten Roman noch einmal in einer leider wenig gelungenen Metapher zusammenzufassen. Ansonsten ist Bei 30 Grad im Schatten ein überraschend brillantes Kleinod.