Bücher und Schallplatten zählen zum unverzichtbaren analogen Inventar von Flohmarktständen, Trödelläden und Haushaltsauflösungslagern. Einen Roman über einen Schallplattenladen müsste also eigentlich etwas Unzeitgemäßes, Nostalgisches, eine morbide Wehmut begleiten. Doch so einfach ist es nicht, nicht nur, weil er vom detailverliebten Sprachvirtuosen Michael Chabon stammt.
von KARIN BÜRGENER
Schon der Titel lässt es mitschwingen, ähnlich wie der berühmte Wink mit dem Zaunpfahl oder gar Telegrafenmasten: Telegraph Avenue erzählt von einer Welt, die mitsamt ihren drahtbespannten Leitungen, kratzenden Plattenspielern und klimaanlagenfreien Räumen im Begriff ist, zu verschwinden. Ganz so weit ist es 2004 zwar noch nicht – doch in diesem Jahr droht die unliebsame, städteplanerisch euphemistisch bezeichnete „Aufwertung des Viertels“ auch einen Plattenladen mit dem sprechenden Namen Brokeland Records zu erreichen. Dieser befindet sich zwischen Berkeley und Oakland, Städten in der Nähe San Franciscos – die Telegraph Avenue verbindet den einen „weißen“ und den anderen „schwarzen“ Stadtteil. Und selten zeigt sich Kalifornien so wenig klischeehaft kalifornisch wie in diesem Roman.
Perlenvorhang auf für eine Welt von gestern
Ein handgeknüpfter Perlenvorhang mit dem Konterfei von Miles Davis eröffnet den Blick in Nat Jaffes und Archy Stallings’ Refugium, in dem sich Liebhaber seltener Pressungen und fast vergessener Jazzbands treffen, den Plattenspieler in Endlosschleife laufen lassen, sich Ratschläge fürs Leben holen und ab und an gar ein Stück Schellack kaufen. Für die beiden Inhaber, die ihr Sortiment passenderweise häufig aus Nachlässen beziehen, reichte der Gewinn bisher so grade. Doch das Paradies ist bedroht: Gibson Goode, ehemaliger Footballstar und inzwischen fünftreichster Schwarzer des Landes, will in der Nachbarschaft einen Medien-Megastore eröffnen – inklusive einer ganzen Abteilung für neue und gebrauchte Jazzplatten. Die herkömmliche Handlung sähe nun vor, dass sich die Nachbarschaft, die keine Lust auf Gentrifizierung hat, zusammenschließt und den Eindringling mithilfe von Bürgerinitiativen und vielleicht einigen Wundern zu vertreiben. Doch auch das ist nicht so einfach, da Goode dem werdenden Vater Archy einen Gefallen tun möchte und ihm ein ziemlich unmoralisches Angebot macht.
Dieser Konflikt, allein schon ausreichend, um einen ganzen Roman zu füllen, ist jedoch nur einer der verflochtenen Handlungsstränge. Den anderen bilden Gwen und Aviva, die Frauen von Archy und Nat, die gemeinsam als Hebammenteam Hausgeburten betreuen – was von Verfechtern mechanisierter und möglichst steriler Klinikgeburtsabläufe nicht gern gesehen wird. Und zu allem Überfluss träumt Luther Stallings, Archys abgehalfterter und selten zurechnungsfähiger Vater und ehemaliger Star trashiger Actionfilme, von der glorreichen Vergangenheit. Alle haben jedoch eine Gemeinsamkeit: Sie symbolisieren gesellschaftliche oder kulturelle Nischen, die aus der Zeit gefallen scheinen.
Unterschwellig schwingt bei aller Verschiedenheit der oftmals tatsächlich schillernden, da im Paillettenanzug steckenden Figuren ein weiteres großes Konfliktfeld mit: die Unwissenheit. Die Weißen haben keine Ahnung, was es heißt, schwarz zu sein; die Atheisten haben keine Ahnung, was es heißt, Jude zu sein; die Reichen haben keine Ahnung, was es heißt, arm zu sein – außer vielleicht Gibson Goode, der sich nicht ohne weiteres in die Rolle des Bösewichts einfügen will.
Eine Frage des richtigen Tons
Chabon vollbringt das Kunststück, diese brisanten Themen zu einem durchweg unterhaltsamem, witzigen und unbeschwerten Ganzen zu spinnen. Denn die Kunst dient ja laut Nietzsche dem Zweck, dass der Mensch nicht an der Wahrheit zugrunde geht, und so verbinden sich die Sprache und das große Thema der Musik in diesem Roman zu einem eigenwillig interdisziplinären Konstrukt, das beim ersten Lesen zu Ohrenrauschen führen könnte.
So ist die Musik einerseits der Kitt, der die Freundschaft zwischen Archy und Nat (der bestimmt nicht ganz zufällig den Namen eines Jazz-Pianisten trägt) trotz aller antagonistischer Angriffe zusammenhält und ihre gemeinsame Geschichte begründet. Andererseits bietet der Detailreichtum, den der Autor für die Schilderung des Plattenladeninterieurs aufwendet, einige Anlässe zur Desorientierung für jeden geneigten Leser, für den Namen wie Charles Kynards, Johnny Hammond oder Airto Moreiras nicht automatisch mit Jazzmusikern der Sechziger und Siebziger, sondern mit großen Fragezeichen verbunden sind. Zugleich eröffnet sich damit die Chance eines, nennen wir es interdisziplinären Lesens: Der Pulitzer-Preisträger Chabon liefert uns nämlich oft nicht nur die bloßen Namen, sondern zugleich auch Song- und Plattentitel sowie das Jahr der Erstveröffentlichung, was die Auffindung bei diversen Online-Streamingdiensten immens erleichtert. Noch besser wäre eine Ausgabe mit einer altmodischen CD oder einem noch nicht ganz veralteten Streaming-Link, inklusive Anspieltipps für das jeweilige Kapitel. Bis dieser Wunsch für die Neuauflage vielleicht in Erfüllung geht, gibt es unter diesem Link eine Spotify-Liste.
Natürlich lässt sich der Roman auch ohne musikalische Begleitung genießen, genauso, wie es nicht zwangsläufig nötig ist, jede der unzähligen Anspielungen zu googeln. Ein wenig Jazz an den richtigen Stellen steigert das Lesevergnügen jedoch ungemein.
Michael Chabon: Telegraph Avenue
Aus dem Amerikanischen von Andrea Fischer
Kiepenheuer & Witsch, 592 Seiten
Preis: 24,99 €
ISBN: 978-3-462-04617-5
Danke für diese ausführliche Besprechung. Seit seinem Debüt mit “Kavalier und Clay” verfolge ich Chabons schriftstellerisches Werk aufmerksam. Das jüngste Werk steht bereits auf der langen Liste, der noch zu lesenden Bücher. Ihre Besprechung läßt es jetzt weiter nach oben rücken.
lg Jochen K.