Panem im Pott: Die Zukunft wird lila

Jörg Albrecht - Anarchie in Ruhrstadt   Cover: WallsteinJörg Albrechts neuer Roman Anarchie in Ruhrstadt wirft einen Blick in eine potenzielle Zukunft des Ruhrgebiets, in der sich im Jahr 2015 eine dezentrale Regierung erhebt und die 53 Städte und Kommunen zu einer einzigen Stadt, der Ruhrstadt, verbindet. Wie und warum es im Jahr 2044 zum Zusammenbruch des zunächst vielversprechenden Systems kommt und sich die Utopie zur Dystopie wandelt, verbildlicht der Roman anhand der Geschichten von Stadtplaner György und der Anarchisten Julieta und Rick.

von PIA ALEITHE

Getragen von den Interessen der Kulturwirtschaft entwickelt sich das Ruhrgebiet nach dem von der Bevölkerung gefordertem Rückzug der Landesregierung zu einer Megastadt unter Leitung des „Komitees der Kreativen“. Jedem Stadtteil wird ein Kulturressort zugeordnet: In Dortmund wird nur noch Mode designt und hergestellt, alle Schriftsteller ziehen in das idyllische Wesel. In „Trans Town“, dem ehemaligen Oberhausen, hat sich einen Enklave aus Transsexuellen gebildet, die ihre Sexualität als eigene Kultur zelebrieren. Bildende Künstler werden zusammen mit dem Museum Folkwang nach Hagen verfrachtet, da in Essen ausschließlich Film und Fernsehen produziert wird. Mülheim wird zum Zentrum der PC-Spiele-Entwickler und was mit Duisburg und Castrop-Rauxel passiert, ist derart logisch-absurd, dass es hier nicht verraten wird. Kurz vor dem 30-jährigen Jubiläum der Ruhrstadt setzt sich jedoch die dem Kultursozialismus skeptisch gegenüberstehende Anarchiebewegung durch, die erkennt, dass durch den Versuch, die Region zu fördern und zu vereinen, ein nicht länger tragbares planungstotalitäres System eingeführt wurde, das es nicht schafft, die postdemokratische Idealwelt aufrechtzuerhalten, die es zu kreieren suchte.

Mögen die lila Wolken stets mit euch sein

Ähnlichkeiten zwischen Albrechts Anarchie in Ruhrstadt und Suzanne Collins Romanreihe Die Tribute von Panem beschränken sich nicht nur auf Elemente der Plotstruktur – neue Regierung führt Distrikte mit klar definierten Aufgaben ein, Bevölkerung wird unzufrieden und startet eine Protestbewegung, zwei junge Protagonisten haben dabei tragende Rollen, die regierungseigene Polizei wendet Gewalt gegen Demonstranten an. Nein, auch eine nach römischem Vorbild gestaltete Kampfarena kommt in beiden Romanen vor, während ein anderer Protagonist in Albrechts Text den Exodus durch giftige Beeren für sich und seinen Lebenspartner in Betracht zieht und die Tribute von Ruhrstadt, Julieta und Rick, die nicht nur durch ihre Namensgebung an Shakespeares tragisches Liebespaar erinnern, der Untergrund-Anarchiebewegung angehören. Wer sich bis dahin noch nicht sicher war, ob es sich hierbei um die Verwendung und gleichzeitige Ironisierung typischer dystopischer Motive handelt, wird spätestens durch eine Gedankenrede Julietas per Brechstangenmethode auf die Ähnlichkeiten aufmerksam gemacht:

„Als wären wir Auserwählte, ausgelost, um unseren Teil dieser Stadt zu vertreten in einer Schlacht um Nahrung, Waffen, Energieressourcen, und am Ende, wenn wir uns gefunden hätten, müssten wir uns gegenseitig umbringen, um zu gewinnen.“

Neben zahlreichen popkulturellen Verweisen, spielt der Roman auch mit Farbcodierungen. Der alternde Stadtplaner György wird stets mit der Farbe Lila und den aus der Popmusik bekannten lila Wolken identifiziert, was als Zeichen seiner Homosexualität gewertet werden kann (aber nicht muss) und gleichzeitig den ihn umgebenden Idealismus und Freiheitsgedanken kennzeichnet.

Rückblicke vom Ausblick

György fungiert im Text zudem als wandelndes Geschichtsbuch der Ruhrstadt. Als Altkanzler und Mitbegründer geben seine Reflexionen dem Text, neben dem Romeo-und-Julia-in-Panem-Plot, einen zweiten Handlungsstrang und somit ein Gerüst. Durch Zeitsprünge zwischen der Gründerzeit der Ruhrstadt, ausgewählten Punkten aus ihrer Geschichte und dem Jahr 2044, in welchem die Handlung um Julieta und Rick spielt, wird die Historie der Stadt rekonstruiert. Die Zeiten und Schicksale der Protagonisten fließen auf den verschiedenen Ebenen ineinander und auch wenn das Konzept Ruhrstadt während des Romangeschehens auseinanderbricht, sind die in ihr lebenden Menschen durch ihre Geschichten, Begegnungen und Beziehungen immer miteinander verbunden. Ähnlich greifen auch die verschiedenen Phasen in der Geschichte des Ruhrgebiets ineinander. Die Ruhrstadt ist in diesem Prozess, der sich Geschichte nennt eine Sequenz, die sich ebenso auf die Vergangenheit des Ruhrgebiets bezieht wie auch auf eine ungewisse Zukunft, von der nur gewiss ist, dass sie anders sein wird, als das, was war. Um es mit Albrechts Worten zu sagen: die Ruhrstadt war nur ein „Exposé für das nächste große Ding“, was kommen sollte.

Die Dsytopie im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit

In Anarchie in Ruhrstadt bekommt man, was man von einer gut durchdachten Dystopie zu erwarten hat: Gesellschafts- und Kulturkritik, die an manchen Stellen zum Schmunzeln subtil ist und an anderen Stellen merklich „jetzt einfach mal so gesagt werden musste“. Im poetisch-postmodernen Stil einer Generation, die weiß, was sie stört, wird Kritik so formuliert, dass zumindest ein Teil der Bevölkerung beim Nachdenken über das Gesagte ihre geistigen Augenbinden abnehmen muss, um zu erkennen, was in der Welt überhaupt los ist. Besonders die Schlusssätze der einzelnen Kapitel sind – wie der jüngere Volksmund sagen würde – ‚episch‘, regen an, aber können auch mit ihrer Fülle an Metaphysik abschrecken. Reizvoll ist an dieser Dystopie speziell die zeitliche und räumliche Nähe zum heutigen Ruhrgebiet und den Tendenzen der Stadtentwicklung. Für Ruhrpottler DIE Heimatdystopie – ohne Currywurst, aber mit Akzent.

Jörg Albrecht: Anarchie in Ruhrstadt
Wallstein Verlag, 240 Seiten
Preis: 19,90 Euro
ISBN: 978-3-8353-1552-5

Anmerkung:

Der Roman gilt als Vorlage für das im September 2014 stattfindende Theaterprojekt mit dem Titel 54. Stadt. In der Zeit vom 12.09. bis 14.09. wird dieses Theaterevent zwischen dem Ringlokschuppen in Mülheim und dem Theater Oberhausen in insgesamt 6 Stunden unter Mitwirkung der Künstlergruppen Ligna, kainkollektiv, Invisible Playground und copy & waste veranstaltet. In letzterer Gruppierung ist der Romanautor Jörg Albrecht selbst aktiv.

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