Linda Lês FLUTwelle ist eine vielstimmige Reflexion über Trauer, Schuld und die Möglichkeit eines erfüllten Lebens. Vier Figuren erzählen aus ihrer jeweiligen Sicht, wie es dazu kommen konnte, dass Lou ihren Mann Van überfuhr. Rache? Eifersucht? Mord? Ein tragischer Unfall? Die formale Strenge des Textes steht hier in reizvollem Kontrast zum emotionalen Inhalt. Der Roman war in Frankreich 2010 für den Prix Goncourt nominiert und erscheint nun auf Deutsch.
von LINA BRÜNIG
Van immigrierte in den Siebzigerjahren von Vietnam nach Frankreich. Dem ehemaligen Schüler eines französischen Lycées fällt die Integration scheinbar leicht, schließlich wird er penibler Verlagslektor und heiratet die Bretonin Lou. Gemeinsam bekommen sie Tochter Laure. Man lebt ein bürgerliches Leben, entfremdet sich und bringt doch nicht die Kraft auf, aus diesem Zustand auszubrechen. Bis Van einen Brief seiner Halbschwester Ulma erhält: Die Geschwister verlieben sich und beginnen eine Affäre. Als seine Frau davon erfährt, wird sie für einen Moment von ihren Gefühlen überwältigt und überfährt Van.
Trauerarbeit aus vier Blickwinkeln
Das alles erfährt man aus der Retrospektive: Die Handlung setzt am Tag von Vans Beerdigung ein. Aus dem Grab heraus reflektiert dieser sein Leben. Zu gleichen Anteilen kommen aber auch seine Frau, seine Geliebte und seine Tochter zu Wort. Lou verfasst auf Anraten ihres Anwaltes ein Selbstzeugnis, Ulma redet mit einem Psychiater und Laure schreibt in das Tagebuch, das ihr Vater ihr einst schenkte. So wird die Geschichte aus vier unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Die hinterbliebenen Frauen kreisen dabei um ihre je eigenen Traumata: Ulma arbeitet sich an ihrer unglücklichen Kindheit ab, während Lou das Scheitern ihrer Ehe seziert und Laure sich vorwirft, ihren Vater nie als den Menschen erkannt zu haben, der er war. Gemeinsam ist ihnen hauptsächlich die Fixierung auf den Verstorbenen und das Ausloten ihrer eigenen wurzellosen Existenzen. Dramaturgisch etwas unglaubwürdig scheint dabei die Neigung der Figuren, jeweils die Lebensgeschichte einer anderen zu referieren. Dennoch ergibt sich dabei ein reizvolles Spiegelkabinett, in dem man eines nicht erwarten kann: Dass sich daraus eine ultimative Wahrheit ergibt.
Von Vietnam nach Frankreich
Die Hauptfigur Van hat einige biographische Überschneidungen mit der Autorin: Auch sie verließ zum Beispiel als Jugendliche ihre Heimat Vietnam, um nach Frankreich zu ziehen – und musste dafür ihren Vater zurücklassen. Es verwundert daher nicht, dass die Passagen, die sich mit Vans Integrationsgeschichte befassen, besonders eindrucksvoll geraten sind, wenn sie zeigen, wie er sein Vaterland verleugnen und innerlich von seinen Wurzeln abkappen muss, um nicht an Heimweh und Schuldgefühlen zu zerbrechen.
Kein Trost
Linda Lê gelingt mit FLUTwelle eine stimmige Gedankencollage, die den Leser trotz der völligen Abwesenheit von Dialogen über die Dauer von 317 Seiten zu fesseln weiß. Frédéric Beigbeder rückte Lê aufgrund ihrer „Genauigkeit und dem Reichtum an Details“ in die Nähe von Jonathan Franzen. Das mag etwas hochgegriffen sein, dennoch besitzt dieser zuerst unscheinbar wirkende Text eigene Qualitäten. Ohne einen übergeordneten Erzähler, der die Aussagen der Figuren einordnen und bewerten würde, ist man auf sich selbst zurückgeworfen. Vielleicht ist es auch genau dieser Eindruck, den die Autorin erzeugen möchte – wie man leben soll, kann einem ohnehin keiner erklären, auch die Literatur nicht. Ist man schließlich gestorben, grübeln vielleicht einige Menschen noch ein wenig über einen nach … und das war’s dann:
„Meine letzten Worte werden verfliegen. Bleiben werden von mir nur ein Stein mit den Daten 1963 – 2010 und vielleicht ein paar Briefe, die Lou und Ulma aufgehoben haben. Jetzt kann ich nur noch schweigen, mit statt eines Grabspruchs die folgenden Verse vorsagen: Ich möchte, dass man mich bis zum Grabe schmäht / Und dann verleugnet, wenn die Zeit vergeht, oder mir einreden, dass ich nicht als Verdammter durch die Hölle irren werde, auf ewig verloren zwischen Orient und Okzident.“