Im kleinen Studio des Schauspiel Dortmund inszeniert Klaus Gehre Spielbergs Minority Report in Form des Live-Films Minority Report oder Mörder der Zukunft. Viel Technik, witziger Trash und die Erkenntnis, dass Philip K. Dick nie so aktuell war wie heute. Und Klaus Gehre ebenso wie Intendant Kay Voges ein gutes Gespür für wichtige gesellschaftliche Themen beweist.
von NADINE HEMGESBERG
Philip K. Dick war ein Visionär – ein fast vergessener. 1928 in Chicago geboren, ist Dicks literarisches Vermächtnis so etwas wie das Trojanische Pferd unseres Science Fiction Hollywoodkosmos. Dem Großteil des Kinopublikums unbekannt, sind Dicks Weltentwürfe und Dystopien, seine Kurzgeschichten und Romane der literarische Grundstein für zahlreiche filmische Adaptionen: Blade Runner mit Harrison Ford in der Hauptrolle (Ridley Scott, 1982), Total Recall mit dem Gouvernator Arnold Schwarzenegger (Paul Verhoeven, 1990), Paycheck – Die Abrechnung mit Ben Affleck und Uma Thurman (John Woo, 2003) oder A Scanner Darkly – Der dunkle Schirm (Richard Linklater, 2006) und Minority Report (2002) von Steven Spielberg mit Tom Cruise als Chief John Anderton, die beide Überwachungsstaaten thematisieren. Letzterer basiert auf der gleichnamigen Kurzgeschichte von Philip K. Dick aus dem Jahr 1956 und könnte aktueller nicht sein.
Internationale Schriftstellerkoryphäen wie Roberto Bolaño , Jonathan Lethem (er widmete ihm 2011 einen ganzen Essay in seiner literarischen Wurzelsuche The Ecstasy of Influence) oder auch David Foster Wallace haben sich von dem ungewollten Gigant der Science Fiction Literatur inspirieren lassen. Ungewollt, ja richtig, denn eigentlich wollte Dick fernab der Nische Sci-Fi schreiben. Charles Platt, selbst Schriftsteller und vehementer Kenner der amerikanischen Science Fiction-Szene schrieb über Dick in der New York Times: „When he tried to embed these ideas in serious contemporary novels, he found no market for them, and thus used science fiction as the unlikely vehicle for his philosophical questions.“
Die Zukunft kennen: Verbrechen verhindern
Genug der Hommage auf das Werk von Philip K. Dick. Wir schreiben das Jahr 2041: Dank des polizeilichen Computersystems zur Verbrechensbekämpfung – PRECRIME – ist seit sechs Jahren kein Mensch mehr ermordet worden. Ein Frühwarnsystem für Verbrechen, die noch gar nicht stattgefunden haben? Was in den 1950ern wie verrücktester Hokuspokus geklungen haben mag und auch noch 2002 zum Kinostart von Minority Report wie eine ferne Zukunftsvision ausgesehen haben muss, ist heute nicht nur technisch möglich, sondern findet bereits Anwendung. In der kalifornischen Küstenstadt Santa Cruz werden Prognosen über mögliche Verbrechen mittels Algorithmen eines Computersystems angestellt, die der Polizei bei der Verbrechensbekämpfung helfen (mehr nachzulesen hier). Und auch in Deutschland wird mit „Predictive Policing“ nun in Nürnberg und München testweise versucht, Vorhersagen über die Zukunft anhand von Algorithmen zu machen. Auch die Europäische Union ist seit Jahren an Möglichkeiten interessiert – zur Sicherheit aller versteht sich – , den städtischen Raum weiter und effektiver zu überwachen und Gefahren zu erkennen, bevor sie wirklich akut werden. Das umstrittene Forschungsvorhaben „Indect“ (Intelligent information system supporting observation, searching and detection for security of citizens in urban environment) wird zur Weiterentwicklung dieses Vorhabens seit Jahren gefördert.
Minority Report: Ein Live-Film
Realisiert wird Minority Report oder Mörder der Zukunft im Studio des Schauspiel Dortmund als Live-Film. Vier Schauspieler bedienen in einer beeindruckenden Choreografie sechs feststehende Kameras: Mit allerlei Utensilien, Hintergrundbildern, Soundeffekten, Nebelmaschinen und wild toupierten Barbiepuppen werden die Vorausblicke gespielt und Actionszenen live performt. Der Live-Film entsteht so im Zusammenspiel zwischen Innenraumgeschehen und den drei großen Leinwänden, die die Bühne umschließen. Der Polizist Jad Flatcher (Ekkehard Freye) bekommt einen Redball mit einem zukünftigen Opfer herein, ein Mord im Affekt, die Suche nach dem Täter mit Hilfe von PRECRIME beginnt.
PRECRIME funktioniert nur durch sogenannte Precogs, Agatha (Julia Schubert) ist eine von ihnen. Wie so oft in Philip K. Dicks Universum sind Drogen zeitgleich Fluch und Ausgang für ein transzendierendes Geschehen. Handelt es sich doch bei den Precogs um durch den Drogenmissbrauch ihrer Mütter versehrte Kinder – die jedoch die Gabe haben, anhand von Algorithmen und Unmengen von erhobenen Daten Korrelationen zu erstellen und zukünftige Ereignisse vorherzusagen. John Anderton (Björn Gabriel) ist der leitende FBI Agent, der mit Hilfe des Systems Täter und Tatort ermittelt, um vor dem Mord einzugreifen. Danny Witwer (Merle Wasmuth) vom Justizministerium beäugt die Aktionen der PRECRIME Unit mit Argusaugen. Es liegt kein Verbrechen vor? Wie kann man einen Menschen für etwas verhaften, das er (noch) gar nicht begangen hat? Was passiert, wenn John Anderton selbst von dem System als nächster Mörder identifiziert wird? Kann er zum Mörder werden, wenn er den Mörder seines Kindes kennt? Gibt es Fehler im System, kleinste Möglichkeiten einer Zukunft, in denen doch nicht das vorhergesagte Ereignis eintritt? Gibt es darüber Minority Reports? Und kann man das System überlisten? Hat Lamar Burgess, der Gründer von PRECRIME, das System bereits zu seinen Gunsten genutzt?
Ganz im Sinne des Manifests
Das Dortmunder Manifest Dogma 20_13 setzt Klaus Gehre hier in all seiner Konsequenz um – Filme ausschließlich im Moment ihrer Erschaffung zeigen, immer zu demonstrieren, wie die Illusion entsteht. Bis auf kleinere Längen ist dieser Live-Film wirklich ein spannender Hybrid aus Theater und Film, ein Abend zwischen der Illusion des Films und dem Blick hinter die Kulissen und die technische Machart. Auch das Ensemble weiß mit seiner Leistung zu überzeugen, das zugleich schöpferisch produziert, aber auch mit trashigem US-Slang und eng sitzenden 1970er Tennisbuxen der Handlung ihren Witz entlockt. Allen voran Julia Schubert, die mal als Precog ätherische Seherin ist, mal als Erkläreule Dr. Iris Heineman, die eine Mischung aus brillanter Wissenschaftlerin und Esomutti in Alices Wunderland ist, überzeugt..
Am Ende dürfen die Zuschauerinnen dann gar mit Hilfe einer App (nur für Android-Nutzer, Apple sah die Sinnhaftigkeit der App nicht gegeben, sie habe ja schließlich nur eine Funktion. Die Verlesung des Ablehnungsschreibens sorgte für Lacher im Publikum) darüber mutmaßen, ob John Anderton zum Mörder wird. Partizipation ist also nicht nur in Kay Voges’ Hamlet eine stete Devise des Schauspiel Dortmund, sondern auch im Minority Report. Und beide Inszenierungen zeigen sich thematisch rund um Überwachung, Algorithmen und der Frage nach der philosophisch ethischen Dimension von solchen technischen Neuerungen voll am Puls der Zeit.
Nächste Vorstellungen:
Sonntag, 21. September 2014
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Donnerstag, 23. Oktober 2014