Die Dusche spricht, die Skyline blinkt und der Weltuntergang scheint nah. In Lucy Frickes nachhallendem neuem Roman Takeshis Haut erlebt eine Geräuschemacherin zufällig das Beben vor der japanischen Küste mit, das die Region um Fukushima 2011 zu einem zweiten Tschernobyl machte. Doch das ist nicht die einzige unerhörte Begebenheit.
von KARIN BÜRGENER
Das Scheppern eines Mülltonnendeckels, der ausgehauchte Rauch einer Zigarette, das Brechen von Knochen und das Knattern eines Maschinengewehrs: Geräuschemacherin Frida sind weder alltägliche noch ungewöhnliche Laute fremd. Als Toningenieurin verhilft sie Filmen nachträglich zum richtigen Geräuschpegel. Doch wenn es darum geht, eigene Wünsche zum Ausdruck zu bringen, kann sie keinerlei Phantasie mehr aufbringen. Die langjährige Beziehung zu Robert erscheint als Meisterstück der Vernunft, denn zu zweit ist es schließlich einfacher, ein Haus „etwas außerhalb“ zu erwerben, den Freundeskreis zu bekochen und Abende daheim nicht ganz so langweilig zu finden.
Aufbruch in die etwas andere Moderne
Der Auftrag eines jungen Regisseurs erscheint dann ebenso mysteriös wie unwiderstehlich: Die komplette Tonspur eines Filmes ist verloren gegangen; Frida soll nach Japan reisen, um hier die Geräuschkulisse seines verstörenden, apokalyptisch anmutenden Debüts zu rekonstruieren. Das Geld spielt keine Rolle, schließlich verfügt der Vater des ambitionierten Filmemachers über eine große Geldbörse. Ein Angebot also, das Frida aufgrund eines finanziellen Engpasses nicht ablehnen kann. In Kyoto erwarten sie ein winziges Appartement in einem riesigen Wolkenkratzer mit sprechendem Aufzug, das Klingen von Tempelglocken, die Schritte eines Mönches – und Takeshi, der ihr bei technischen Pannen zur Seite steht und sich zusätzlich als hervorragender Fremdenführer und schließlich auch Liebhaber erweist.
An dieser Stelle könnte Frida sich, wäre Lucy Fricke eine einfallslosere Autorin, von ihrem alten Leben in Berlin losreißen und sich in Japan mit der Aufnahme von Meditations-CDs ein glückliches Kirschblütendasein einrichten. Doch dieses Frauenromanschicksal bleibt Frida erspart: Ein Stück Wirklichkeit hält Einzug in die Erzählung. Denn am 11. März 2011 erschüttert ein schweres Erdbeben große Teile von Japan und setzt eine Kettenreaktion in Gang. Plötzlich ist Fukushima in aller Munde. Und Takeshis Vater, der ein paar Tage am Meer verbringen wollte, ist nicht erreichbar.
Lange widersetzt sich Frida den immer drängenderen Forderungen von Freunden und Verwandten, doch bitte sofort nach Berlin zu fliegen, bevor ganz Japan aus globaler Angst vor Verstrahlung von den Flugplänen gestrichen wird. Kyoto ist zwar verhältnismäßig glimpflich davongekommen, doch in Deutschland sind Geigerzähler und Jodtabletten schon ausverkauft, Anti-Atomkraft-Mahnwachen formieren sich am Brandenburger Tor. Frida versucht ihre Hilflosigkeit zu kompensieren, indem sie Newsticker im Sekundentakt aktualisiert und Bilder über Bilder über sich hinwegfluten lässt. Schließlich kehrt sie doch zurück – ausgestanden ist damit jedoch keinesfalls alles. Der Film verspricht unterdessen, ein Knüller zu werden, entspricht die Endzeitvision doch genau der aktuellen Weltuntergangsstimmung.
Was ist schlimmer: ein sechsflammiger Gasherd oder eine sprechender Getränkeautomat?
Zwei Welten kontrastieren miteinander in diesem Roman, und die Entscheidung, welche trostloser ist, fällt wahrlich schwer. Auf der einen Seite steht die Sicherheit verheißende deutsche Beschaulichkeit, vor der es auch mit einem hippen Beruf in der Filmbranche ab einem gewissen Alter kein Entkommen gibt. Der Wein ist schon etwas älter und trockener, ebenso die Beziehung. Den Freundeskreis bevölkern Veganer mit Laktose-, Gluten- und Glutamatunverträglichkeit, die Freizeit wird infolgedessen am sechsflammigen Gasherd mit integriertem Tellerwärmer verbracht.
Auch im fernen Kyoto steht die Sicherheit weit oben: Schutzhelm und Taschenlampe harren im Küchenschrank; Rolltreppen, Fahrstühle, Getränkeautomaten, ja sogar Duschen zählen mit freundlicher Stimme Vorsichtsmaßnahmen auf. Was für ein Vorteil es doch sein kann, eine Sprache nicht zu beherrschen, findet Frida.
Novellistische Grundzüge
Der mit 192 Seiten eher kurze Roman zeigt einige novellistischen Charakteristika, bildet doch die unerhörte Begebenheit – in diesem Fall die nukleare Katastrophe – den Wendepunkt der Geschichte. Auch das Unerhörte an sich wird thematisiert; schließlich beschäftigt sich Frida ihrer Profession nach mit Geräuschen, die oftmals unbemerkt im Hintergrund verschwimmen. Die großen Fragen werden nur angerissen oder skizziert, weshalb der Text zum berühmten Lesen zwischen den Zeilen anregt. Was verbindet Menschen, die einige Stunden, Tage, Jahre oder gar Jahrzehnte miteinander verbringen? Welche Qualität hat die Zeit? Wann fällt der Abschied schwerer?
Eine Suche nach Antworten muss erfolglos bleiben. Doch das erscheint vor diesem Hintergrund nur allzu menschlich.