Das Essener Grillo-Theater eröffnet die neue Spielzeit politisch: In Die Odyssee oder „Lustig ist das Zigeunerleben“ nimmt sich Regisseur Volker Lösch der Ausgrenzung von Roma und Sinti an. Sie stehen in seiner Inszenierung exemplarisch für „die Anderen“, für alles, was das bürgerliche Selbstverständnis im Zuge seiner Selbstfindung hinter sich gelassen und getötet hat. Löschs Agenda ist ehrenwert, die Schaulust bleibt jedoch auf der Strecke.
von FABIAN MAY
Wenn der sozial engagierte Volker Lösch die Odyssee auf die Bühne bringt, die „Urgeschichte bürgerlicher Subjektivität“, wie er sie mit Adorno und Horkheimer akzentuiert, dann sieht das so aus:
Im Bühnenvordergrund erzählen und spielen sechs weiß Gekleidete mit blonden Perücken – im Chor und zum Teil unter extra ekliger Verspeisung verschiedener Gänge eines Gastmahls: Odysseus’ Irrfahrten. Wer immer von ihnen das Wort führt, ist gerade Odysseus.
Im Hintergrund steht ein Haus. Ein Roma-Haus. Es dreht sich, und in ihm spielen sechs Schauspieler, die nicht nur in dieser Inszenierung Roma und Sinti sind, sondern auch im echten Leben. Ihre ethnische Zugehörigkeit soll authentifizieren, was sie spielen. Sie spielen die Klischees, die das Epos den „Anderen“ zuschreibt: den „Anderen“, die Odysseus getötet, geblendet oder düpiert hinter sich lässt. Die Klischees, mit denen die „Weißen“ sie aufladen – Müllberge, Ziegelbaracken, Ungeziefer –, sind (hört, hört) Projektionen, d. h. von einem Beamer auf das weiße Haus geworfen.
Die „Anderen“ sprechen ihre Geschichten; collagiert aus tatsächlichen Befragungen eines serbischen Rom aus einer Essener Asylunterkunft, von besorgten Nachbarn des sogenannten Duisburger Roma-Hauses – und von manchem erschreckend unsensiblen Zuschauer des Grillo-Theaters. Natürlich habe er oder sie Angst vor Sinti und Roma, soll da jemand auf den Fragebogen geschrieben haben, jeder habe halt so seine Ängste, mancher habe ja auch Angst vor Spinnen.
Die gesammelten Zuschreibungen werden von den Roma-Schauspielern, so sagt es das Programmheft, „lustvoll und analytisch vorgeführt“. Der Kyklop ist ein fauler Fettsack, der einen Bierkasten vor die Höhle rollt und später einen Ikea-Plastikfernseher nach Odysseus’ Schiffen wirft. Die inzestuös lebenden Laistrygonen sind dauerschwangere Romni. Kalypso ist ein zügelloser Männertraum im maximalpigmentierten Nacktanzug. Die Freier werden inszeniert als maskierte Schaben, denen später die toten Skalps abgezogen werden.
Kontrastmontage, ein Chor, der immer wieder („Gemeinsam sind wir stark!“) konzertiert gegen das fremde Kollektiv vorgeht – Volker Löschs Theater ist, sagt er, im Idealfall die „lustvolle Nötigung, sich auf ein Thema einzulassen“.
Warum das ethisch glückt
Die Thesen, die Lösch und die beiden Dramaturgen Stefan Schnabel und Vera Ring hier ganz groß an die Kirchentür schlagen: Roma als am schlechtesten bekannte und zugleich am stärksten vorverurteilte Randgruppe in Europa leiden unter dem Rechtsruck auf dem Kontinent, unter fehlender Hilfs- und Integrationsbereitschaft der Mehrheitsgesellschaften und unter ihrer eigenen Nichtsichtbarkeit. Zugleich haben sie sich als Folge der ungezählten Benachteiligungen so tief eingebunkert und so viel Misstrauen gegen die Mehrheitsgesellschaft aufgebaut, dass die Minderheit der Aufgeklärten aktiv gegensteuern muss: im Theater, in den Medien, mit der nötigen Sensibilität im persönlichen Umfeld.
Deshalb ist das Stück durchsetzt von Aufklärung im nachrichtlichen Stil. Laut angeführten Statistiken leben in Europa 90 Prozent der Roma sesshaft, sind sie nicht signifikant krimineller als die Gesamtbevölkerung und auch nicht arbeitsloser als der Rest der in Deutschland lebenden Menschen. Gleichzeitig besagt eine rezente Umfrage im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, dass ein Drittel der Befragten sich Roma und Sinti nicht als Nachbarn vorstellen kann. Plastisch dargestellt: Wenn ich das nicht bin, ist es mein linker oder rechter Nachbar.
Das Unwissen darüber, wie Roma mehrheitlich leben, ist als Problem ernst zu nehmen. Denn, wie das Ensemble es im Stück sagt: „Je erfolgreicher Roma sind, desto weniger bekennen sie sich dazu, Roma zu sein.“ Bei dieser weitgehenden Unkenntnis von Positivbeispielen verfestigt sich in der Mehrheitsbevölkerung das Bild vom bettelnden Rom in der Fußgängerzone. – Im Stück verkleiden sich die „Anderen“ als Bettler und greifen mit aufgehaltener Hand offensiv aufs Publikum über.
Am Ende des Premierenabends treten die Akteure gar aus ihrer Rolle und wünschen sich mehr Toleranz und Interesse oder – falls das nicht gelingen sollte – ein „Romanistan“ analog dem Staate Israel. Ein Gadsche (d. h. Nicht-Roma) geht in der Solidarisierung so weit zu sagen, die Bundesrat-Entscheidung, Serbien, Bosnien und Mazedonien zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, sei ein Schlag in die Gesichter seiner anwesenden Schauspielerkollegen.
Warum es ästhetisch misslingt
Das stimmt. Aus ihm spricht die Stimme von Vernunft und Menschlichkeit. Ethisch ist die Wirkungsabsicht dieses Abends bemerkenswert und zu würdigen. Aber warum muss das ein toleranzpädagogisches Theaterstück werden? Da sind wir wieder bei Volker Löschs sozialdokumentarischer Theaterauffassung. Leider bleibt bei der diesjährigen „Nötigung, sich auf ein Thema einzulassen“, das Lustvolle auf der Strecke. Als Lösch vor zwei Jahren in Essen die Ruhrgebiets-Familiensaga Rote Erde mit viel Nebel, Rammstein und Äußerungen junger Arbeitsloser anreicherte, hat das bedeutend mehr Lust gemacht.
Das aktuelle Lösch-Stück hat drei Probleme. Erstens, ein inszenatorisches: Die künstlerische Umsetzung ist sehr reduziert. Man kann das mögen, wenn man auf abstrakte Inszenierungen steht, aber bei all den Fernprügeleien und Kollektivrollen bleibt wenig Raum für tatsächliche Berührung, für individuelles Spiel und für die szenische Vitalität, die es braucht, um einen drei Stunden lang bei der Stange zu halten.
Zweitens, ein inhaltliches: Genau wie sich diese Rezension im Zitieren und damit doch auch im Perpetuieren von Roma-Klischees verliert, so tut es auch das Stück. Die wenigen Momente, in denen die kulturelle Identität der Roma positiv definiert wird, geht im allgemeinen Frontmachen unter. – Vielleicht will die Inszenierung es so? Jedenfalls kommt man nicht mit mehr Wissen über die tatsächlichen Lebensumstände und –einstellungen von Sinti und Roma heraus, als man hineingegangen ist. Und irgendwie sind sie ja, irgendein Selbstverständnis haben sie ja, außer dass sie sich durch anhaltende Ausgrenzung „in einer kollektiven Depression“ befinden, wie es im Stück heißt.
Drittens, der Tonfall des Stücks: Der zeigende Gestus ist wirklich abschreckend. Odysseus’ Irrfahrten in Essen zu sehen, ist wie zwei sehr anstrengende Filme zu gucken, einen Historienschinken und einen Dokumentarfilm, zwischen denen ständig hin- und hergeschaltet wird, aber man hat selbst die Fernbedienung nicht in der Hand. Ein schreckliches Gefühl.
Zugleich aber, eine wichtige Realitätserfahrung: Die drängenden Fragen, wie mit der bestehenden Roma-Ausgrenzung umzugehen ist, kann man nicht wegzappen.
Nächste Vorstellungen:
Mittwoch, 24. September 2014
Freitag, 26. September 2014
Freitag, 10. Oktober 2014