Die juristische Unschärfe einer Ehe führt den Leser tief ins Hinterland des Kaukasus und wohl möglich genauso tief in die „russische Seele“ – was auch immer das sein mag. Olga Grjasnowas zweiter Roman changiert zwischen Stereotypen, Vorurteilen, privaten Missverständnissen und Völkerunverständigung.
von ANNA-LENA THIEL
Grjasnowas Erzählung ist an der Schwelle zwischen Ost und West angesiedelt – nicht nur durch ihre hauptsächlichen Handlungsorte, Berlin und Baku, sondern vor allem durch ihre Protagonisten. Die Eheleute Leyla und Altay sind noch nicht lange in Berlin. Sie sind nicht nur in die deutsche Hauptstadt gekommen, um hier unter besseren Bedingungen arbeiten zu können; Altay ist ein hart arbeitender Arzt, Leyla hingegen für eine Ballerina schon fast ein wenig zu alt. Sie erhoffen sich hier, freier leben zu können. Beide Partner sind bisexuell und führen eine offene Ehe, ein Lebenswandel, der in ihrer osteuropäischen Heimat nicht geduldet würde. Jonoun ist ebenfalls neu in Berlin, die amerikanisch-israelische Kunststudentin schlägt sich mit Kellnern durch. Eines Abends trifft sie dabei Leyla und fühlt sich sofort unvergleichlich angezogen von der wunderschönen und geheimnisvollen Frau – ein Novum für Jonouns Libido.
Doch die mögliche sexuelle Krise ist schnell abgewendet und Leyla und Jonoun landen nicht nur im Bett, aus Geldnöten zieht Jonoun auch noch zu dem Ehepaar – zum Missmut Altays, der die unordentliche und chaotische Kunststudentin nur bedingt leiden kann.
Der erste Teil des Romans entwickelt sich so zu einer Art Großstadtportrait mit drei Charakteren. Der gestresste Mann und die beiden Frauen leben miteinander und nebeneinander, durchreden und durchzechen die Nächte und kommen sich dabei irgendwie doch kein Stück näher.
Der zweite Teil des Romans ist eine Mischung aus Road Trip durch den Kaukasus. Leyla und Jonoun sind im Porsche von Leylas Papa unterwegs, und Problematisierung des schwulen Lebens in Baku, denn dorthin hatte der – zunächst einsame – Aufbruch Leylas das Trio geführt.
Ein Roman zwischen Wollen und Können
Gerade in Hinblick auf die politische Situation Russlands und die noch nicht beendete Krimkrise muss einem Roman, der Korruption, Justizwillkür und Hegemonie in Osteuropa thematisiert, Aufmerksamkeit geschenkt werden. Gerade, wenn man sich damit – zugegebener Maßen – nicht besonders gut auskennt, ja zum Verfolgen der Autotour der beiden Protagonistinnen sogar eine Karte zurate ziehen muss, kann das extrem lehrreich sein. Doch leider wird die Bedrohlichkeit und teilweise Unvorstellbarkeit der geschilderten Zustände durch die Scherenschnitt-Charaktere derart relativiert und sogar banalisiert, dass das Interesse an den Hintergründen schnell verblasst. Denn natürlich hat Leyla, die russische Ballerina aus einer Oligarchenfamilie, im Bolchoi-Internat gelernt und natürlich hat Jonoun, die ihre Kindheit behütet in Israel verbracht hat, kaum an einem us-amerikanischen College angekommen, ihren viel älteren Professor geheiratet und von den Nebenfiguren, die aus dem Kasperle-Theater wirken soll hier gar nicht angefangen werden.
In den Mix hineingeworfen werden noch wehmütige bis traumatische Erinnerungen an die ersten Lieben, ein unreflektierter Nazi-Nachkomme, eine ebenso unreflektierte Vergewaltigung und ein bunter Strauß psychischer Probleme, die ebenfalls einfach so stehen gelassen werden. Und was das alles mit der „juristischen“ Seite einer Ehe oder irgendetwas anderem zu tun haben soll, erschließt sich bis zum Schluss nicht.
Irgendwann hat man im Deutschunterricht mal gelernt, dass das, was eine Kurzgeschichte ausmacht, neben der fehlenden Exposition und dem fehlenden Schluss die Wahl des Ausschnitts ist. Der Ausschnitt, der ein Menschenleben unwiderruflich verändert, ein Ereignis, das wie ein heißes Messer ins Schicksal eindringt. Es steht zu vermuten, dass Olga Grjasnowa so etwas in der Art angestrebt haben mag, als sie ihren Roman plante und daher ihre Erzählung relativ abrupt anfangen und enden lässt. Der für eine Kurzgeschichte verhältnismäßig lange Mittelteil versucht so viele lebensverändernde Momente einzufangen, dass der Leser am Ende beinahe ein Schleudertrauma davon trägt – es ist einem nur leider nicht ganz klar, wovon eigentlich. Während des Lesens war man nicht aktiv gelangweilt und nur stellenweise von der Klischeehaftigkeit des ganzen abgestoßen („Der Weg war lang und führte durch üppige Landstriche, vorbei an Landhäusern, deren Gärten und Zäune nach russischen Literaturklassikern rochen“ – sofern hier nicht mit Büchern gedüngt oder gemauert worden ist, macht das noch nicht mal Sinn!). Aber letzten Endes zählt Die juristische Unschärfe einer Ehe wohl eher zu den Büchern, die man nach dem Zuschlagen schnell wieder vergisst.
Olga Grjasnowa: Die juristische Unschärfe einer Ehe
Hanser Literaturverlag, 265 Seiten
Preis: 19,90 Euro
ISBN: 978-3-446-24598-3
Sorry, aber diese Rezension wird meiner Meinung nach dem Roman nicht gerecht. Schwächen hat der Roman schon, aber einiges in dieser Rezension geht am Ziel vorbei. Leyla entstammt beispielsweise nicht einer Oligarchen-Familie, höchstens, man definiert Oligarchie falsch. Die Charaktere sind keineswegs scherenschnittartig, sondern in entscheidenden Fragen (Herkunft, sexuelle Vorlieben) reichlich komplex. Psychische Probleme gibt es einige, aber die erklären sich aus der Vergangenheit der Figuren (eine Transaktionsleistung, die Olga Grjasnowa ihren Leserinnen und Lesern durchaus zutraut). Und wenn dieser Roman laut Deutschunterricht eine zu lang geratene Erzählung ist, weil die Handlung plötzlich einsetzt und endet, dann hat der Deutschlehrer bzw. die Lehrerin wahrscheinlich einen Großteil der Literatur nach Joyce, Dos Passos oder Kafka einfach ignoriert.