Das einzige, was der Jahrhunderthalle fehlte, war der Dauerlutscher. Am Samstag, den 27. September zeigte die Ruhrtriennale die Tanzperformance manger von Boris Charmatz. Das Stück überzeugte durch eine beeindruckende Gruppendynamik und den sichtlichen Willen, das Konzept des Körpers zu erforschen und an neuartige Grenzen zu führen. Eine Auslotung der alltäglichsten aller Handlungen – des Essens.
von SILVANA MAMMONE
Boris Charmatz zählt bereits seit 2012 zu den prägenden Künstlern der Ruhrtriennale. In seinen Stücken versucht er stets, Tanz neu zu definieren. So sind auch in seiner derzeitigen Produktion keine leichtfüßigen Tänzer_Innen zu bewundern, denn das Ensemble bewegt sich größtenteils am Boden, meist mit vollem Mund.
Essen, das tun wir alle, zu jeder Tageszeit, im Sitzen, im Stehen, im Liegen, wo auch immer wir gerade sind. Die Kluft zwischen Genießen und Fast Food ist mittlerweile allen bewusst, wird von allen erfahren und diskutiert. Doch was liegt dazwischen? Was bedeutet Essen wirklich für den Menschen, seinen Körper und sein Bewusstsein? In manger geht es nicht, wie man vielleicht erwarten würde, um den gängigen Diskurs von Schönheit und Gesundheit, Dekadenz und korrupter Lebensmittelindustrie. Vielmehr wird das Essen, als Handlung und als körperlicher Prozess betrachtet, ein performatives Konzept, das den Vorgang reflektiert, neu darstellt und beleuchtet.
Essenszyklus
Zu Anfang treten die Tänzer_Innen aus dem Publikumsraum, mit Esspapier in den Händen. Sie tragen Alltagskleidung, tiefliegende Halogenröhren strahlen kühles Licht auf die Bühne. Das 14-köpfige Ensemble findet seinen Platz innerhalb des unsichtbar abgesteckten Raumes, den es im Laufe der Performance nicht überschreiten wird. Schließlich beginnt der Erste das Papier zu essen, langsam und ohne richtig hineinzubeißen. Die Nächste schlingt es herunter, wieder ein anderer beißt gleichförmige Kreise in das Esspapier. Das in der Performance auszuschöpfende Potenzial des Essvorgangs spiegelt sich so bereits in den ersten Momenten wider, in denen die weißen Blätter den Bühnenboden und die Lippen der Tänzer_Innen berühren. Von diesem Punkt ausgehend, wird keiner der Performer_Innen mehr aufhören zu kauen, zu spucken, zu lecken.
Die Performance ist zyklisch aufgebaut und beinhaltet drei Kernelemente: Ton, also Chor- und Sprechgesang, Bewegung und den Prozess des Essens. Die Choreografie verfolgt dabei eine stete, fast wellenartige Dynamik, welche Zeit und den in ihr ausgedrückten Entwicklungsprozess sichtbar macht. Der Wechsel zwischen den Raumebenen, zusammen mit Lichtwechseln von hell zu dunkel, erinnert an den Verlauf des Tages, wie die Zuschauer_Innen ihn alltäglich erfahren. Das Bewusstsein der Tänzer_Innen scheint anhaltendem Wandel unterzogen, was sich im Tempo ihrer Bewegungen sowie ihrer Art zu essen widerspiegelt. Es findet ein stetiger Energiewechsel statt, der an Wachen und Schlafen anmutet und vor allem durch Licht und Ton zum Ausdruck kommt. Schlussendlich, nach einer Stunde Dauerkauen, ist jedes einzelne Blatt Esspapier verschlungen, die Personen treten an ihren anfänglichen Platz auf der Bühne zurück und das Licht erlischt.
Neue Formen des „Konsum-Körpers“
In dieses abgerundete Grundkonzept der Choreografie fügt sich die teils skurrile Erforschung des Körpers während der Nahrungsaufnahme passend ein. Ausschlaggebend hierfür ist vor allem die beeindruckende Gruppendynamik der Tänzer_Innen, welche den anhaltenden Fluss an Ton und Bewegung aufrechterhält. Die Gruppe bildet so einen weiteren Körper, der sich von der Konzentration des Einzelnen abhebt und ihn gleichzeitig ergänzt. Dabei ist das Individuum als einzigartige Persönlichkeit nicht von Interesse, der Fokus liegt auf dem Vorgang an sich. Während die einzelnen Personen für sich spielerisch erforschen, beleuchtet die Gruppe grundlegende Aspekte des Essens: von sexueller Befriedigung, über Animalisches bis hin zum organischen Prozess der Verdauung. Während gekaut wird, wird gesungen, werden die Beine verdreht, wird sich in die Füße gebissen. Grenzen werden strapaziert, indem nicht gleicht geschluckt, sondern erst noch einmal gespuckt wird. Jeder Krümel wird vom Boden geleckt oder gepickt, es wird so schnell und so langsam gegessen wie möglich. Wenn Kontakt zum anderen hergestellt wird, dann wird er gleichsam konsumiert, indem er gebissen oder mit dem eigenen Körper verschlungen beziehungsweise begraben wird.
Überzeugende Gradwanderung
Besonders begeistert die Spannung zwischen Reflexion des Alltäglichen und der bewussten Überschreitung des Gewohnten und zu Erkennenden. manger schafft es, den Zuschauer zu packen, auch und gerade in solchen Momenten, in denen Bewegungen und Handlungen in Skurrilität übergehen. Das Auge des Zuschauers wird nie müde, Neues zu entdecken, während das Bewusstsein von der steten Dynamik der Gruppe getragen wird. So ist der Vorgang des Essens losgelöst, ohne ihn ganz und gar zu entfremden und zu etwas komplett Neuem zu machen. Vielmehr werden das Essen und der Körper neuartig vereint.
manger macht mit jedem Moment neugieriger auf das; was folgt, denn das Ensemble gibt sich schamlos dem Essen hin. Charmatz erlaubt es dem Publikum; dieser intimen Handlung beizuwohnen, und katapultiert es somit in einen Zustand zwischen Selbstreflexion und Lachen. Entsprechend groß ist auch die Begeisterung, und so fügen sich zum Schluss Fußgetrampel und Jubelrufe in den gängigen Applaus mit ein.