Lachsalven, laute Zwischenrufe, nicht enden wollender Applaus, Pfiffe und Schreie, Standing Ovations, Überwältigung und Herzrasen bei den Zuschauern. Was ist da los? Haben die vom Theater umsonst Alkohol ausgeschenkt? – Nein, die Reaktionen seien eigentlich immer so positiv, wird später erzählt. Das Fest feierte seine Premiere im Schauspiel Dortmund bereits im Februar 2013, doch auch in dieser Spielzeit begeistert Kay Voges’ Inszenierung nach wie vor.
von GERALDINE GAU
Das Fest (1998) war der erste Film, der aus dem Dogma 95-Manifest hervorging, das Regisseur Thomas Vinterberg 1995 zusammen mit Lars von Trier und weiteren Filmemachern unterzeichnete. Dieses Manifest sollte den Spielfilm von der Entfremdung durch die Technik wegführen. Mittel waren Handkameras, Originalschauplätze und der Verzicht auf jegliche technische Filter oder künstliche Veränderung der Drehorte. Bald wurde das Manifest jedoch von den Gründern selbst zugunsten einer künstlerischeren Ästhetik verworfen (man denke nur an die Tableaus der späteren Lars von Trier-Filme, wie Antichrist oder Melancholia). Dennoch markiert es noch ein Umdenken, vielleicht den Wunsch, das alltägliche Leben mit all seinen Fehlgriffen einzufangen: Konfrontation statt Eskapismus.
Die Dogma 95-Bewegung feierte im Jahr 2013 ihr 18-jähriges Jubiläum – dies nahm das Schauspiel Dortmund zum Anlass, seine Inszenierung unter das „Dortmunder Manifest“ DOGMA 20_13 zu stellen. Auf der einen Seite stellt dieses Manifest eine ironische Überhöhung seines Vorgängers dar. Manche Regeln bilden eine direkte Antithese zum Dogma 95. Während die Handkamera dort eine personale Sicht imitiert, darf auf der Bühne nur eine maschinell gesteuerte Kamera fungieren, die von den Schauspielern nicht beeinflussbar ist und damit Objektivität zumindest suggeriert. Auf der anderen Seite wird hier die Zukunft von Kino und Theater, auch nicht ohne ein Augenzwinkern, verhandelt. Es stellt sich die Frage, ob beide Künste nur noch in Verbindung existieren können und als Einzeldisziplinen obsolet geworden sind. Der Film, so besagt das neue Manifest, erfährt seine Auferstehung im Theater. Er ist gleichermaßen Motion Picture und Life-Performance.
Verdrängung gehört zum guten Ton
Aber genug vom theoretischen Fundament und zurück zu den Feierlichkeiten. Es ist der sechzigste Geburtstag des Hoteliers Helge, die Familie rückt zu diesem Anlass andächtig zusammen. Bereits zu Beginn wird spürbar, dass hier viele ungeklärte Probleme die gute Stimmung überschatten. Helges ältere Tochter ist kurze Zeit zuvor gestorben, der jüngste Sohn hat die Beerdigung versäumt und ist deshalb eigentlich nicht eingeladen, weshalb sein Erscheinen auf Widerstände stößt. Doch alle raufen sich zusammen und erzwingen mit Alkohol, Kalauern, streng arrangierten Festreden und dem wiederholten Rückgriff auf laut gegrölte Party-Schlager eine oberflächlich gute Stimmung, die sofort auf das Publikum überschwappt. Als Christian, der älteste der vier Zöglinge, das Wort ergreift und betont ruhig von der vielfachen Vergewaltigungen durch seinen Vater erzählt, die auch der Grund für den Selbstmord der Schwester waren, wird er einfach übergangen. Weitere Versuche, sich verständlich zu machen, werden als geistige Verwirrung Christians abgetan und man versucht, ihn aus der Gesellschaft zu entfernen. Ein Abschiedsbrief der Selbstmörderin bestätigt schließlich Christians Anklage, die Familie kann den Vater nicht mehr decken. Statt Christian wird nun Helge verstoßen. Das Gefühl, die Wurzel des Übels herausgerissen zu haben, lässt wieder Raum für Feierlichkeit und gute Laune. Doch geklärt ist noch immer nichts.
Das Kino der Zukunft
Anfangs wird das neue Manifest humorvoll vorgetragen. Sätze wie „Das Leben ist hart, die Kulissen sind weich.“ oder „Dogma 20_13 fordert die radikale Selbstständigkeit des Zuschauers“ stecken den Rahmen ab. Die Theorie ist, wenn auch ironisiert, integraler Bestandteil, sogar Thema, der Inszenierung. Dies zeigt sich auch, wenn der rote Samtvorhang sich öffnet und den Blick auf die Kamera freigibt, die zunächst, entgegen ihrer Funktion, allein auf einer Schiene an der Decke ihre Kreise zieht. Sie ist hier kein Mittel der Erzählung, sondern wird durch ihren autarken Tanz selbst zum Betrachtungsgegenstand.
Ein wenig später fährt eine Wand aus Gaze vor der Bühne herunter, die fortan als Kinoleinwand fungiert und die produzierten Bilder auffängt. Durch den dünnen Stoff sind die Schauspieler dahinter trotzdem noch zu sehen, der Prozess des Filmens wird transparent, wie das neue Manifest es fordert. Da sich die Kamera kontinuierlich kreisend über den Köpfen der Schauspieler bewegt, müssen diese ihr folgen und gleichzeitig in der Bewegung präzise Szenen konstruieren, die simultan auf der Leinwand als „fertiger“ Film gezeigt werden. Alles fixiert sich zunächst auf die Kamera und den Film als Endprodukt.
Vereinzelt verlassen die Darsteller im Verlauf des Stücks jedoch diesen sicheren Raum und treten vor den Bildschirm. Die Brüche erfolgen in Momenten der Ernsthaftigkeit, wenn der schöne Schein zu bröckeln beginnt. Christian hält seine Anschuldigungsrede an der Rampe, auch Helge wird später hier von seinem jüngsten Sohn zusammengeschlagen, außerhalb des Zugriffs der Kamera. Es scheint, als wolle Kay Voges vermitteln, dass das wahre Leben nur auf der Bühne gezeigt werden kann, der Film hingegen überzeichnete Trugbilder hervorbringt. Doch am Ende, als das Stück wieder handgemachtes Theater ist, Bildschirm und Kamera keine Funktion mehr haben und alle Illusionen überwunden scheinen, bricht sich diese Deutung aufs Neue. Nachdem Helge verbannt wurde, wird im Zuschauerraum ein fröhliches Frühstück zelebriert, das sich wieder der Schönmalerei verschrieben hat. Gerade die Nähe zu den Darstellern, die wirkliche Teilnahme an der Feier, sorgt hier für eine erneute Ausblendung der erschreckenden Realität. Als Zuschauer wird man emotional von einem Extrem ins nächste gestoßen. Während es für manche eine Erleichterung ist, nach bedrückender Stille oder einer brutalen Schlägerei wieder die ausgelassene Partystimmung zu genießen, wird bei anderen gerade hier eine Ablehnung erzeugt, die sich aus der Ignoranz und Untätigkeit der Gäste speist.
Geschickt verbindet Kay Voges, was nicht unbedingt zusammen gehört: Humor und Tragik, Theorie und Praxis, Theater und Film. Es gelingt dadurch, ein Erleben zu generieren, das die Frage des Stücks zur Entscheidung jedes einzelnen Zuschauers werden lässt. Sieht man sich den leidenden Helge auf der Bühne an, der sabbernd an der Rampe kriecht? Isst man lieber ein gebuttertes Croissant mit den fröhlichen Partygästen? Lässt man sich die Schuld der Verdrängung aufladen?
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