Viel Federlesen um Thomas Hettche

Thomas Hettche: Pfaueninsel   Cover: Kiepenheuer und WitschIn Die Pfaueninsel erzählt Thomas Hettche ein Märchen des 19. Jahrhunderts und findet damit, wonach der junge Walter Benjamin suchte: Die ersehnte Trophäe, hier ist sie.

von SIMONE SAUER-KRETSCHMER

Inseln scheinen wie gemacht dafür, Geschichten über sie zu erzählen. Ganz egal, ob es sich dabei um reale Schauplätze oder um frei erfundene Eilande handelt: Die Insel garantiert immer ein gewisses Maß an Weltabgewandtheit und sie ist häufig auch ein Abenteuer, bei dem schon die Anreise Außergewöhnliches verspricht. Im Vorbeigehen lässt sie sich nicht passieren, die Insel will entdeckt werden, auch wenn sie längst ein nur mehr offenes Geheimnis ist. Für den jungen Walter Benjamin muss die Berliner Pfaueninsel genau solch ein Ort gewesen sein, an den er sich viele Jahre später, in der Berliner Kindheit um neunzehnhundert, erinnert. Benjamin will die berühmte Insel, die Theodor Fontane als ein Märchen beschrieb, jedoch nicht bloß besuchen, sondern sie sich ein Stück weit zu eigen machen. Dazu begibt er sich auf die Suche nach der Feder eines Pfaus, doch vergeblich. Die ersehnte Trophäe lässt sich nicht auffinden und so bleibt die Insel für ihn ebenso verloren wie „ein zweites Vaterland: die Pfauenerde.“ Als Benjamin um 1900 die Pfaueninsel besuchte, lag ihre große Glanzzeit schon einige Jahrzehnte zurück. Das heutige UNESCO-Weltkulturerbe wurde im späten 17. Jahrhundert dem Alchimisten und Glasmacher Johannes Kunckel zum Geschenk gemacht, fungierte mehr als ein Jahrhundert später als Sommerresidenz preußischer Könige und wurde zu einer gestalterischen Vision berühmter Architekten und Gartenbaumeister. Ferdinand Fintelmann, der seit 1804 als Hofgärtner auf der Pfaueninsel wirkte, war einer von ihnen und begegnet uns in Thomas Hettches Roman gemeinsam mit einer Vielzahl literarischer Doppelgänger historischer Persönlichkeiten wieder.

Monster im Unterholz

Hettches Geschichte der Pfaueninsel beginnt mit einem unbedachten Wort: Es ist Sommer und die königliche Gesellschaft um Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise residiert auf der Insel. Die Kinder spielen im Garten, wo eine kleine lederne Kugel den Händen der jungen Prinzessin Alexandrine entgleitet und sich ihren Weg ins Unterholz bahnt. Niemand scheint den kaum erwähnenswerten Vorfall bemerkt zu haben, nur Königin Luise nimmt die Spur des Spielzeugs auf. Mit einem Mal umgibt sie der kühle Schatten der Bäume und es fröstelt sie in der sie umgebenden Stille, die viel weiter weg von der fröhlichen Sommergesellschaft zu liegen scheint als nur ein paar wenige Schritte. Ohne es zu wissen, ist Luise auf der anderen Seite der Pfaueninsel angekommen, die sich den Blicken des hochherrschaftlichen Besuches normalerweise entzieht, denn hier, in Dickicht und Schatten, liegt eine wilde und ursprüngliche Welt verborgen. Einen Augenblick später wird sich die Königin eines kleinen Jungens bewusst, der sie so erschrickt und anekelt, dass ihr ein unvorsichtiges brutales Wort über die Lippen kommt. Monster nennt sie ihn, Christian den Zwerg, der gemeinsam mit seiner ebenfalls kleinwüchsigen Schwester Marie auf die Insel geholt wurde, um als lebendige Kuriosität den König und sein Gefolge zu erfreuen. Marie kommt dabei die Rolle eines Schloßfräuleins zu und sie wartet schon seit langem darauf, der Königin endlich aufzuwarten. Doch Luises Wort, das Christian seiner Schwester nicht verschweigen kann, wird zu einer dauerhaften Verletzung und zum Ursprung unzähliger Fragen, die Marie sich Zeit ihres Lebens stellen wird. Denn während die Königin bereits acht Wochen nach diesem Vorfall an Typhus stirbt, hat Maries Leben gerade erst begonnen. Hatte die Königin nicht vielleicht sogar recht, fragt Marie sich, bin ich Tier oder Pflanze, bin ich Monster oder Mensch? Maries Suche nach einer passenden Kategorisierung für ihre Existenz ist ein Spiegel für die Blicke der anderen Menschen, die auf Marie treffen und in denen sie dieselbe Frage wiedererkennt, die einst Luise in ihr wachrief. Dabei ist es bezeichnend, dass Marie von Gärtnern und Botanikern umgeben ist, die es sich zum Ziel gesetzt haben, ein ebenso kontrolliertes wie ästhetisch ansprechendes Wachstum auf der Insel zu verwirklichen. Kultivierung, Optimierung, Korrektur und Perfektion sind die Stichwörter, die nicht nur Fintelmanns Passion beschreiben, sondern den Zeitgeist des 19. Jahrhunderts in so vielen Bereichen der Wissenschaft und der großen technischen Entdeckungen erfassen. Was also ist eine Zwergin in Zeiten der rasenden Erneuerung, des großen Ausstellungswesens von Völkern und Kulturen, wie auch der Entstehung der Biologie als Naturwissenschaft?

Patina und Moderne

Marie lebt ihr Leben räumlich abseits der großen historischen Ereignisse des Jahrhunderts, denn sie ist ebenso Teil der Insel, wie die Insel Teil von ihr ist. Aber: Die Zeiten ändern sich, so kann man in regelmäßigen Abständen bei Hettche lesen, und auch die Pfaueninsel bleibt nicht ewig verschont von gravierenden Umwälzungen. Marie hingegen bleibt dieselbe. Sie ist modern, weil sie die immerwährend aktuelle Frage stellt, was der Mensch ist und was er sein will. Und sie ist Vergangenheit, weil sie Teil von etwas sehr Altem ist, das längst verloren war, noch bevor der Roman begonnen hat. Ihr Bruder Christian ist sich dessen bewusst und setzt eines Tages alles aufs Spiel, um seine Schwester und sich zu rächen, während sich die ihn umgebende Gesellschaft in Orientphantasien suhlt. Einen passenderen thematischen Hintergrund hätte Hettche für dieses furiose Intermezzo kaum auswählen können, denn genau an dieser Stelle zerstört die Illusion des Exotischen sich selbst. Offenbar wird die Gier der Zuschauer, von der auch Maries Leben bestimmt wird. Doch trotz dieses fatalen Zwischenfalls fällt das Schloßfräulein nicht aus ihrer Rolle und Marie wählt ihre Worte weiterhin stets mit Bedacht und Sorgfalt. Die Pfaueninsel ist ein sehr schönes und ein sehr trauriges Märchen, klassisch erzählt und feinsinnig erdacht. Die Entscheidung für diese literarische Gattung mag Hettche-Lesern, etwa der ebenfalls historisch rekonstruierenden Romane Nox und Der Fall Arbogast, vielleicht ungewohnt erscheinen, das große Thema der Pfaueninsel ist jedoch spätestens seit Woraus wir gemacht sind im Werkkorpus Hettches angelegt: Es ist die Sehnsucht selbst, die Maries Denken beherrscht und mit der sie sich ein niemals enden wollendes Zwiegespräch leistet. Die konkrete Sehnsucht nach Schönheit und Dauer, nach Liebe und Sinn, aber auch nach dem irgendwann einmal unbemerkt Verlorenen, dem Flüchtigen, das man einmal besessen hat oder das man noch immer besitzen könnte, wenn sich nur eine Kleinigkeit im Gesamtgefüge verschieben ließe. An genau dieses Gefühl erinnert Walter Benjamin, wenn er um die Pfauenfeder trauert, die ihm nicht vergönnt war. Benjamins und Hettches Pfaueninsel sind verlorene Paradiese; Orte, wie gemacht dafür, all das, was sie umgibt, infrage zu stellen. Die Insel als Mikrokosmos der Lesenden – sie ist Thomas Hettche fantastisch gelungen.

Thomas Hettche. Die Pfaueninsel.
Kiepenheuer & Witsch, 352 Seiten
Preis: 19,99 Euro
ISBN: 978-3-462-04599-4

2 Gedanken zu „Viel Federlesen um Thomas Hettche

  1. Danke. „Pfaueninsel“ liegt hier auch noch auf dem (schon wieder viel zu hoch gewachsenen) Stapel der zu lesenden Bücher. Die Besprechung hat mich noch neugieriger gemacht. lg_jochen

  2. Auch ich habe Pfaueninsel sehr gerne gelesen, auch wenn mir die historische Ebene (mit den zahlreichen botanischen Ausflügen) manchmal etwas zäh vorkam, die Geschichte von Marie hat mich einfach sehr begeistert. 🙂

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