Erinnerungen in Gestalt treibender Wolken

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Foto: Catherine Hélie Courtesy Ed. Gallimard

Der Nobelpreis für Literatur geht in diesem Jahr an Patrick Modiano – und damit bereits zum 15. Mal an einen französischen Schriftsteller. Eine (persönliche) Annäherung an den Meister der Fragezeichen.

von KATJA PAPIOREK

Man nehme einen (meist männlichen) Ich-Erzähler. Gerne darf er Künstler, im Idealfall sogar Schriftsteller sein (oder werden wollen). Vermutlich lebt er in Paris. Eines Tages (ungefähr heute) erinnert er sich – mit dem Abstand einiger Jahrzehnte – zurück an sein jüngeres Ich, ein Ereignis oder eine Begegnung (irgendwann zwischen Okkupationszeit und den 1970er Jahren). Auslöser dafür kann ein Foto sein, ein Zeitungsartikel oder ein Café. Eigentlich immer geht es um die Abwesenheit einer Person (tot oder verschwunden): den Vater, eine flüchtige Bekanntschaft, die große Liebe, ein junges Mädchen, das während des Krieges verschwunden ist – oder den Erzähler selbst. Eben dieser Erzähler begibt sich dann auf die Suche, rekonstruiert die Ereignisse, versucht die durch die Abwesenheit der Person entstandene Leerstelle zu füllen. Et voilà: ein Modiano-Roman.

„Es waren immer die gleichen Wörter, die gleichen Bücher, die gleichen Metrostationen.“ (Der Horizont)

Nun mag man meinen, Patrick Modiano schreibe immer wieder denselben Roman. Oder eben einen großen Roman. Tatsächlich ist die Wiederholung ein wesentliches Merkmal seiner Texte. Das gilt für Themen und Motive ebenso wie für Figuren, Orte und Namen. Dadurch ist jeder einzelne Text mit den vorangegangenen (und vermutlich auch den folgenden) verknüpft. Jede Lektüre eines weiteren Modianos bringt ein Wiedererkennen mit sich. Die Texte überlagern einander, Textgrenzen verschwimmen – ebenso wie Zeit und Raum. Diese merkwürdige alte Frau, der der Erzähler (scheinbar unaufgefordert) immer wieder sein Geld gibt. Die Autowerkstatt. Die Metrostation. Jacqueline. All das scheint bekannt, lässt sich aber nicht ohne weiteres zuordnen. Die immer wieder thematisierte Suche überträgt sich auch auf den Leser.

„Von allen Satzzeichen, so sagte er mir, bevorzuge er das Fragezeichen.“ (Ein so junger Hund)

Der Vorgang des Suchens bleibt bei Modiano immer unabgeschlossen. Seine Erzähler stellen Nachforschungen an, wühlen sich durch Archive, Zeitungen, Adressbücher und Fotografien, kehren an Orte zurück, die in irgendeiner Verbindung zur abwesenden Person stehen, stellen Fragen. Doch bleiben die Texte die Antworten schuldig. So präzise und detailliert die Beschreibung von Bars, Cafés, Straßen oder Metrostationen, so vage und unvollständig bleiben die Informationen über die abwesende Person, die doch eigentlich im Zentrum der Erzählung steht. Was nicht durch konkrete Erinnerung oder Dokumente überliefert ist, wird durch Imagination ersetzt – oder eben durch die Topographie der Stadt. So wirkt Modianos Erzählen bisweilen fragmentarisch, widersetzt sich einer Chronologie und repräsentiert auf diese Weise alternative Ordnungsverfahren, die dem Prozess des Erinnerns ähneln. Die fortwährende Suche nach der eigenen Identität oder einer abwesenden Person lässt sich zweifellos als Kampf gegen das Vergessen interpretieren – doch es bleibt unklar, ob es sich dabei nicht um einen aussichtslosen Kampf handelt.

Patrick Modianos Romane erscheinen bei Hanser. Der Verlag hat angekündigt, die ursprünglich für Frühjahr 2015 geplante Veröffentlichung von Gräser der Nacht vorzuziehen.

 

In der Pressemitteilung der Svenska Akademien heißt es: Der Nobelpreis in Literatur des Jahres 2014 wird dem französischen Schriftsteller Patrick Modiano verliehen „für die Kunst der Erinnerung, mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen und die Lebenswelt der Besatzungszeit durchschaubar gemacht hat“.

 

 

2 Gedanken zu „Erinnerungen in Gestalt treibender Wolken

  1. Hört sich an, als würde er in Prousts Spur wandeln. Danke für die wunderbar präzise und sehr aufschlussreiche Würdigung!

  2. Ich las im August von ihm „Der Horizont“ – weil eine vorausschauende Buchhandlung den schmalen Roman prominent plaziert hatte, so daß ich aufmerksam wurde. Für sich genommen – und so habe ich das Buch gelesen – fallen die beschriebenen Wiederholungen und Ähnlichkeiten naturgemäß nicht auf. Ich bin trotz dieser Warnung neugierig darauf, auch eines seiner älteren Werke kennenzulernen.
    Meine Leseeindrücke gibt es hier: http://notizhefte.wordpress.com/2014/08/29/patrick-modiano-der-horizont/

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