Eine Frau sitzt im Zug. Man weiß zunächst nicht, wohin sie fährt. Doch die Beschreibungen der kargen Landschaft, die am Zugfenster vorbeifliegt, und die nassen Hosenbeine der Frau, die sich an ihre Fußknöchel schmiegen und sie frösteln, lassen erahnen, dass der Bestimmungsort der Reise kein schöner sein wird. Kerstin Preiwuß erzählt in ihrem Debütroman Restwärme eine über mehrere Generationen reichende Familiengeschichte, die nichts von nostalgischer Wärme hat.
von ESRA CANPALAT
Das Elternhaus ist kurz vorm Einstürzen und moosbewachsen, der Schuppen voll mit verrostetem Werkzeug, tote Fische, die aufgedunsen auf der Wasseroberfläche schwimmen: Marianne erhält keine warmen Willkommensgrüße, als sie nach vielen Jahren wieder das Grundstück ihres Elternhauses betritt. Die Mutter gibt nur das Nötigste von sich, der Bruder Hans ist ruppig und hasserfüllt wie immer. Die Sprache, mit der die Familienmitglieder miteinander in Dialog treten, ist genauso emotionslos und abgehärtet wie die Figuren selbst. Und über dem ganzen Geschehen schwebt immer noch die übermächtige Präsenz des aggressiven Vaters, der alle mit Argusaugen zu beobachten scheint. So ist der Grund für Mariannes Besuch auch nicht etwa wohliges Heimweh, sondern der Tod des Vaters. Die Beerdigung scheint mehr eine Pflichterfüllung zu sein, kaum einen der Verbliebenen scheint der Tod des erbarmungslosen Patriarchen wirklich zu kümmern. Doch die Erinnerungen steigen in Marianne unweigerlich hoch.
Gegenwärtige Vergangenheit
Marianne erinnert sich an Vergangenes, als würde es gerade erst passieren. Dabei kommt nicht nur ihre eigene furchtbare Kindheit zutage, sondern auch die von Krieg und Flucht geprägten Biographien vergangener Generationen der Familie. Diese weit zurückliegenden Ereignisse werden von einer unbekannten Instanz erzählt, verweben sich mit Mariannes Anekdoten und lassen Vergangenes gegenwärtig werden, so als lasse sich dieses niemals abschütteln. Was diesen Roman so lesenswert macht, ist nicht nur dieser erzähltechnische Kniff, sondern Preiwuß’ Sprache. Unfassbares und Grausames schildert sie in einem kargen, nackten Stil, der den Leser umso mehr mitnimmt, als es ein leidenschaftliches, bedeutungsschwangeres Lamento tun würde: Fast schon unbeteiligt erinnert sich Marianne an die Wutausbrüche ihres Vaters, die Schläge, die ihr Bruder immer und immer wieder einkassieren muss, während ihre Mutter, die selbst von ihrem Ehemann gedemütigt wird, schweigend zusieht. Als der Vater Hans’ Kopf so heftig gegen die Abwaschschüssel stößt, dass dieser nicht aufhören will zu bluten, entgegnet die Mutter nur: „Ist gut, wenn altes Blut mal rauskommt.“
Die Metapher auf dem Seziertisch
Preiwuß‘ Erzählart lässt den Leser genauso frösteln wie die Protagonistin auf dem Weg in die Heimat. Doch bleibt man als Leser nicht angeekelt oder gar abgestumpft zurück. Es ist vor allem das fast schon naturwissenschaftliche Sezieren bekannter Metaphern, die begeistern und emphatisch Einblick in die Gefühlswelt Mariannes und die tiefen Wunden der Vergangenheit zulassen: „[…] sehr schön hier, vierzig Kilometer Nacht waren kein Problem, nur Davonkommen war schwer, man hing so am Land, dass es an einem zog, wenn man es verließ, eine Art Herzschmerz, aber das war nur ein Bild, denn im Bauch saßen wesentlich mehr Nerven. Man musste wohl einen Ort finden für all die widersprüchlichen Gefühle, und da hatte das Herz gewonnen, denn hier ging das arme Blut rein und kam reich wieder raus, während der Magen bloß verschob, was am Ende den Körpers verließ, vielleicht war die ganze Heimatsehnsucht nur so etwas wie eine Herzmetapher für den Bauch.“
So ist auch der Titel des Romans bezeichnend. Marianne entdeckt im Hinterhof in der Asche des nächtlichen Feuers ein Holzstück, das noch Restwärme hat. Sie pustet solange, bis die Glut wieder zum Feuer wird. Trotz all der emotionalen Kälte, mit der der Leser konfrontiert wird, bleibt ein Rest Wärme, denn die Geschichte geht einem so nah, dass man keineswegs unberührt und kalt zurückbleibt. Kerstin Preiwuß schafft es mit einer ungewöhnlichen Erzählart und einer an die Substanz gehenden Sprache den komplexen Themen Heimat und Familie auf den Grund zu gehen. Auch wenn die Jury des Bachmannpreises der Ansicht war, dass Preiwuß’ Text mit seinem traumatisierten NS-Vater, den jeder kenne, nichts Neues mitteile und die Nerz-Fabrik-Metapher als KZ-Metapher problematisch und misslungen sei, ist es letztlich die präzise Sprache Preiwuß’, die überzeugt und diesen Roman lesenswert macht.
Kerstin Preiwuß: Restwärme
Berlin Verlag, 239 Seiten
Preis: 18,99 Euro
ISBN: 978-3827012319