Aporien des Bewusstseins, Unwegsamkeiten der Liebe

COVER_Heinz Helle_Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin SuhrkampEinst beschäftigten sich Philosophen mit dem Glück. Heute kümmern sie sich mehr um Neurobiologie. Heinz Helles intelligenter Debütroman Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin stellt die Frage, wie sich eins zum anderen verhält. Was macht eine neurowissenschaftliche Beschreibung mit der Wirklichkeit unserer intimen und sozialen Verhältnisse?

von BERNHARD STRICKER

Grölende Fußballfans können eine ziemlich lächerliche Figur machen. Vielleicht nicht in jedem Fall, aber zumindest dann, wenn man ihnen als unbeteiligter Zuschauer begegnet, gewissermaßen mit dem Blick des Ethnologen, der sich fragt, welchem seltsamen Stammesritual er wohl gerade beiwohnen mag. Ein bisschen von dieser reflexiven Distanz mag manchmal gerade die Voraussetzung dafür sein, dass wir uns in andere überhaupt hineinversetzen können – schließlich steigert die Entdeckung, wie fremd wohlbekannte Verhaltensweisen und Gebräuche, manchmal sogar unsere eigenen, uns erscheinen können, unsere Sensibilität für das möglicherweise Vertraute bei Fremden. Schlimm aber, wenn aus den Schleifen der Reflexion kein Weg mehr zurückführt in das unmittelbare Erleben des Hier und Jetzt. Schlimmer noch, wenn dieses Übel uns nicht als Zuschauer, sondern als Fußballspieler befällt. Am Anfang von Heinz Helles Debütroman steht emblematisch die Figur eines kleinen Jungen, der als Torhüter so lange darüber nachdenkt, ob es ihm wohl gelingen wird, den Ball zu halten, dass er über dem Nachdenken die Chance, ein Tor zu verhindern, verpasst.

(Selbst-)Porträt des Erzählers

Diese Figur, wohl ein Porträt des Erzählers als junger Mann, bringt treffend das Dilemma des Protagonisten zum Ausdruck. Kurz gesagt, er ist niemals irgendwo einfach nur da, sondern er weiß immer auch, dass er es ist. Das hört sich etwa so an: „[…] ich denke, dass ich doch eigentlich überwältigt sein müsste von den unglaublichen ersten Eindrücken in dieser unglaublichen Stadt, und ich denke, vermutlich fühlt es sich genau so an, überwältigt zu sein von den unglaublichen ersten Eindrücken in dieser unglaublichen Stadt […].“ Das „Ich denke“, das nach Kants berühmter Formulierung „alle meine Vorstellungen begleiten können“ muss, schiebt sich wie eine Wand zwischen die Erlebnisse des Erzählers und sein Bewusstsein. Klar, dass ihm das Bewusst-Sein so auf die Dauer das Da-Sein ziemlich vergällt und ihn in einem Zustand völliger Indifferenz erstarren lässt.

Als Philosoph beschäftigt das Problem des Selbstbewusstseins unseren Protagonisten nicht nur privat oder als Teil der conditio humana, sondern er geht ihm auch im Rahmen seiner professionellen Beschäftigung nach. Als Leser hingegen kommen einem immer öfter Zweifel, ob es sich bei dem „Selbst“ des Erzählers darum wirklich um ein besonders geeignetes Untersuchungsobjekt handelt. Denn dieses „Ich“, das da denkt und dessen Gedanken wir im Roman verfolgen, geht sich offenbar immer gerade dann selbst aus dem Weg, wenn es sich zu objektivieren versucht und sich beschreibt als „in Desoxyribonukleinsäure gespeicherter Wuchs“, als „Fähigkeit, [s]ich an verschiedene Momente [s]einer Kindheit und Inhalte [s]einer Schulbildung zu erinnern“ oder als „alle Möglichkeiten, die aus der Verschmelzung eines Spermiums [s]eines Vaters und einer Eizelle [s]einer Mutter vor 9.964,5 Tagen realisiert wurden“. In dieser Perspektive erscheint sehr bald als die letzte mögliche Antwort auf die Frage, „worum es eigentlich geht“: „die Erhaltung der Art.“

Worum es eigentlich geht

Anders als der Titel Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin zunächst vielleicht vermuten lässt, geht es in dem Roman also nicht um Flugzeugabstürze, sondern um etwas sehr viel Allgemeineres, das auch heute, nachdem man statt von „Seele“ nur mehr von „Geist“, „Bewusstsein“ oder „Gehirn“ spricht, noch den Namen „Leib-Seele-Dualismus“ trägt. Es geht aber auch um etwas weniger Allgemeines: einen deutschen Philosophie-Studenten im Auslandssemester an der City University in New York und alles, was ihn (nicht nur räumlich) von seiner Freundin in Europa trennt. Zunächst mal ist da die Geschichte zweier sich liebender junger Menschen, mit allen zärtlichen, romantischen, erotischen, aber auch manchmal anstrengenden, alltäglichen und ernüchternden Momenten des Zusammen-Lebens. Dann geht es um das, was den interkontinentalen Beziehungshaushalt durcheinanderbringt. Und das sind nicht allein die Promiskuität und der Egoismus des manchmal wirklich bis zur Grenze des Erträglichen unsympathischen Erzählers. Es sind auch nicht allein seine Schwierigkeiten, in Worte zu fassen, um es ihr, aber auch sich selbst glaubhaft zu machen, dass er seine Freundin vielleicht tatsächlich liebt. Nein, an erster Stelle unter all den Dingen, die eine scheinbar unüberwindbare Schranke bilden zwischen ihm und ihr, steht mal wieder „dieses eine, winzige, riesige Ding […], dieses schwammige, unsichtbare, allmächtige Ich“. Oder etwa nicht?

Der Skeptizismus ist ein Chauvinismus

Wollte man zum Vergleich eine Romanfigur heranziehen, die in ähnlich selbstgefälliger Weise wie der Protagonist von Helles Roman ihre Beziehungsprobleme zu einem Erkenntnisproblem sublimiert und mit epistemologischen Aperçus ausschmückt, fiele einem wohl nur der Erzähler von Prousts À la recherche du temps perdu ein. Zu diesem Vergleich passt auch die Larmoyanz, die unser Erzähler nach der Trennung von seiner Freundin zur Schau trägt, ohne darum seine Houellebecq-Allüren aufzugeben. Im Unterschied zu den idealistischen Reflexionen, die Proust seinem Erzähler in den Mund legt, wie etwa, dass wir im anderen Menschen stets nur eine Spiegelung unserer selbst erkennen, vertraut aber der Protagonist von Helles Roman als Teilnehmer an einem Seminar zum Thema Bewusstsein und Neurowissenschaften zunächst darauf, dass die endgültige kognitionswissenschaftliche Erklärung seines Bewusstseins und von Bewusstsein überhaupt nur mehr eine Frage der Zeit ist. Als Remedium gegen den biologischen Determinismus, dass er als Mann nun einmal alle Frauen einfach ficken will, bleibt ihm darum auch nur der Hilferuf an die Neuropsychologie, ihm doch endlich die passende Tablette zu verabreichen, um sein unglückliches Bewusstsein zu kurieren und dafür zu sorgen, dass er nie aufhört, seine Freundin zu lieben.

Haecceitas

Reduzierte sich die Handlung von Helles Roman wirklich auf die Darstellung unumgänglicher Bewusstseinsaporien, so wäre sie zutiefst undramatisch. Vollständig determinierte Wesen ohne Spielräume freier Handlungsentscheidung geben im Allgemeinen keine besonders guten Romanfiguren ab. Der Konflikt tut sich aber gerade dort auf, wo die Selbstbeschreibung des Protagonisten als komplexe biologisch-neurophysiologische Apparatur versagt. Dieser Konflikt gelangt zu seinem dramatischen Höhepunkt bei dem Vortrag, den der Erzähler vor dem philosophy department seiner ausländischen Gastuniversität halten soll, um die Ergebnisse seiner Forschung zum Bewusstsein zu präsentieren. Vielleicht stellt er diese Ergebnisse ja tatsächlich vor, indem er vor der Versammlung von Professoren und Kommilitonen in ein bedeutsames und irritierendes Schweigen verfällt, nachdem ihm plötzlich der phänomenale Überschuss einiger Staubkörner im Lichtschein des Projektors über jedwede Form von Bewusstsein, die man von ihnen haben könnte, aufgegangen ist. „Haecceitas“ nannte man im Mittelalter diese irreduzible Einzigartigkeit des „Dies-Da“. Mit der Wandlung, welche der Erzähler infolge dieser Einsicht durchlebt, schlägt der Roman schließlich einen kompositorisch runden Bogen zurück zum Anfang, von dem hier nur so viel verraten sei: Die Rettung geschieht durch den Fußball. Wir wollen annehmen, dass es kein Zufall ist, wenn der Roman am Ende dem Leser selbst die Entscheidung überlässt, wie weit mit den Erkenntnisfragen des Protagonisten unbedingt auch seine Beziehungsprobleme gelöst sind.

Heinz Helle: Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin
Suhrkamp, 159 Seiten
Preis: 18,95 Euro
ISBN: 978-3-518-42398-1

 

 

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