Was man (nicht) sehen kann

COVER_Anthony Doerr_Alles Licht das wir nicht sehenEin verschwundener Schatz und eine Verbindung zwischen zwei auf unterschiedliche Weise im Dunkeln gefangenen Jugendlichen, die auf verschiedenen Seiten eines Krieges stehen, für den sie nichts können… Was klingt wie eine gefährlich zum Kitsch tendierende Mischung, verbindet sich in Alles Licht, das wir nicht sehen zu einer ebenso spannenden wie reflektierten Erzählung vom Aufwachsen in der Zeit des Zweiten Weltkrieges und von den alle Ideologien unterlaufenden Gemeinsamkeiten der Menschen. Anthony Doerr findet eine klare Sprache für die Dunkelheit einer Zeit, die von irrem Reinheitswahn beherrscht wurde und dennoch nicht vermochte, alle Hoffnungen auf Zukunft zu ersticken.

von SOLVEJG NITZKE

Marie-Laure ist nicht einmal sieben Jahre alt, als sie erblindet. Es braucht seine Zeit, bis sie sich in der neuen, dunklen Welt zurechtfindet, aber sie ist findig und ihr Vater geduldig. Ihr ganzes Leben spielt sich zwischen ihrem Zuhause und dem Muséum National d’Histoire Naturelle ab. Dank des Holzmodells ihres Vaters kennt sie jeden Schritt, jeden Stein und jede Wendung ihres Quartiers. Sie lernt jeden Geruch, jedes Geräusch kennen und widmet sich den Exponaten des Museums mit der gleichen Begeisterung, wie sie in Jules Vernes 20.000 Meilen unter dem Meer eintaucht. Auch Werner Hausner ist neugierig und aufgeweckt und doch ist er nicht weniger eingeschränkt als das blinde Pariser Mädchen. Der Junge wächst mit seiner jüngeren Schwester in einem Waisenhaus auf dem Gelände der Zeche Zollverein in Essen auf. Die Leiterin des Heims bemüht sich zwar nach Kräften, aber Armut und Hunger bestimmen den Alltag der Zwischenkriegszeit – nicht nur den der Kinder. Trotzdem ist Werners Neugier nicht zu bremsen, jeden Tag „macht er sich daran, die Welt zu befragen“. Er hat ein besonderes Talent für technische Geräte, vorzugsweise Radios. Bald stößt er auf eine Stimme, die ihn Dinge über die Welt lehrt, von denen er nicht einmal zu träumen wagte.

Anpassung und Abgrenzung

Der (nahende) Krieg hat ganz unterschiedliche Auswirkungen auf die Kinder. Während er Marie-Laure und ihren Vater zwingt, aus Paris zu fliehen, eröffnet er für Werner unerwartet einen Ausweg aus dem Elend des Reviers. Für einen Jungen der Region, zumal einen Waisen, führt eigentlich jeder Weg in die Dunkelheit der Zechen. Das gilt umso mehr, als die erstarkte Rüstungsindustrie auf Kohle und Stahl angewiesen ist. Doch Werners Begabung für die Reparatur von Radios lässt die richtigen – oder eben die falschen – Leute auf ihn aufmerksam werden. Der hellblonde Junge ergattert einen Platz in einer der Kaderschmieden der Nazis. Die Hoffnung auf ein Physikstudium, auf ein Leben als Erfinder, lässt ihn den Drill und die Ablehnung seiner Schwester ertragen. Der Waisenjunge lernt, sich anzupassen und auch wenn ihm immer mehr Zweifel am Menschenbild der Ausbilder kommen, trägt ihn der Erfolg seiner Erfindungen. Auf der anderen Seite der Front wird Marie-Laures Welt immer kleiner. Im besetzten St. Malo schränken Besatzer und Kollaborateure den Handlungsrahmen der Bewohner empfindlich ein. Doch das Mädchen lernt schnell, dass nicht nur sie darauf angewiesen ist, sich im Dunkeln zu bewegen. Der äußere Anschein unterscheidet sich viel zu oft von dem, was hinter geschlossenen Türen passiert. Marie-Laure war jedoch schon immer gut im Lösen von Rätseln und Bewahren von Geheimnissen und findet schnell in ihre Rolle im Untergrund hinein. Der Junge, der als Wehrmachtssoldat zur Aufspürung feindlicher Sender eingesetzt wird, und das Mädchen, das der Résistance zuarbeitet, müssten sich also als Feinde gegenüberstehen. Der Krieg, der sie trennt, führt sie trotzdem auf verschlungenen Wegen zueinander.

Der Unterschied zwischen Leben und Überleben

Geschichten von unwahrscheinlichen Freundschaften gehören zur Mythologie des Krieges. Die gesetzten Grenzen scheinen sich angesichts des Zusammentreffens ‚echter‘ Menschen nicht aufrechterhalten zu lassen. Insbesondere wenn Kinder ins Spiel kommen, scheinen Unschuld und Unverdorbenheit die Feindschaften der Erwachsenen zu unterlaufen und die ‚wahren‘ menschlichen Verbindungen ans Licht zu bringen. Doerrs Roman macht es sich glücklicherweise nicht ganz so einfach.

Alles Licht, das wir nicht sehen spielt mit der Gegenüberstellung von Licht und Dunkelheit und den damit assoziierten Gegenüberstellungen von Gutem und Bösem, Richtigem und Falschem, aber hier ist keine der Figuren automatisch einer der beiden Seiten zugeordnet. Vielmehr müssen sie lernen, sich im Dunkeln zu bewegen, müssen sich entscheiden, so oder anders zu handeln, und auch wenn im Roman die Vermenschlichung der Opponenten dankenswerterweise nicht zur Entschuldigung von Verbrechen führt, hält er doch für jede Figur die Möglichkeit bereit, sich eines Besseren zu besinnen.

Was Doerrs Roman neben seiner klaren Sprache und den eindrücklichen Bildern so lesenswert macht, ist die Herstellung von Verbindungen zwischen Menschen, die über Zeit und Raum des Krieges hinausreichen. Dabei geht es aber gerade nicht um die Feier von Menschlichkeit im Sinne eines irgendwie doch in allen schlummernden Guten, sondern um Neugier und Wissensdurst und den Wunsch, ein Leben zu führen, das diese Bedürfnisse befriedigt. Dass auch in der dunkelsten Zeit dafür noch Raum geschaffen werden kann und dass das Festhalten an einem solchen Leben zur Voraussetzung für Zukunft wird, steht im Zentrum dieses Romans. Doerr erzählt gerade deswegen eine gute Geschichte, weil es ihm gelingt, der Versuchung zu widerstehen, den Krieg zum Hintergrund eines Abenteuerromans zu verklären und trotzdem die Hoffnung zu nähren, dass es noch Licht gibt, auch wenn man es nicht sehen kann.

Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen
C.H. Beck, 519 Seiten
Preis: 22,95 Euro
ISBN: 978-3406667510

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