Nachsitzen mit Karl Ove Knausgård

Leben von Karl Ove Knausgard Quelle: LuchterhandGanz egal, wie sehr man sich auch bemüht, irgendeine ‚literarische Entdeckung‘ verpasst man immer. Falls einem das unfreiwillige Versäumnis später bewusst wird, gibt es bereits eine Vielzahl von Kommentaren zum Text, die einem die eigene Meinungsfindung nicht unbedingt erleichtern. Karl Ove Knausgårds sechsbändiges Mammutprojekt Min Kamp, das dem autobiographischen Schreiben der Gegenwart zumindest quantitativ eine neue Dimension verleiht, ist genau so ein Fall für mich. Aber: das literarische Feuilleton, Interviews mit dem Autor und die hauptsächlich in Amerika geführte Debatte, ob Knausgård gar der neue Proust sei, kennen nur eine Konsequenz – Selbst lesen.

von SIMONE SAUER KRETSCHMER

Dass Mein Kampf als Titel einer autobiographischen Romanreihe für den deutschen Markt ungeeignet ist, muss nicht weiter kommentiert werden. Daher lauten die deutschen Titel auch nicht Min Kamp 1-6, sondern sind thematischer Natur: Sterben, Lieben, Spielen und Leben sind seit 2009 in Deutschland erschienen. Das erklärte Ziel dieses ohne Zweifel leicht größenwahnsinnigen autobiographischen Projektes ist nicht weniger, als das eigene Leben zu erzählen. Dass Wahrheit und autobiographisches Streben aber ein zumindest problematisches Duo sind, zeigt der Blick in die Literaturgeschichte ein ums andere Mal. Dichtung und Wahrheit, Selbsterkennung oder Selbstverkennung fragt die Germanistikprofessorin Martina Wagner-Egelhaaf, denn was ist die Wahrheit von Dichtung und wo beginnt die Geschichte des eigenen Lebens tatsächlich? Lässt Erinnerung sich überhaupt erfolgreich in Sprache umsetzen oder zeigt uns bspw. Vladimir Nabokov in seinem Wiedersehen mit einer Autobiographie (so der Untertitel von Erinnerung, sprich) nicht genau Gegensätzliches, indem Nabokov, der eigentliche Unterzeichner des ‚autobiographischen Paktes‘ zwischen Leser und Verfasser, sich ausgerechnet hier weiterhin so gekonnt entzieht wie man es von seinen (als solche ausgewiesenen) Prosafiguren gewohnt ist.

Ein Mann, viele Worte

Autor und Erzähler zu verwechseln hat eine lange Tradition, mit der zahlreiche Schriftsteller gern spielen, indem sie Ähnlichkeiten zwischen ihren Figuren und der eigenen Biographie einsetzen, häufig unterstützt durch den simplen Kunstgriff, literarische Charaktere auch mit dem Eigennamen des Verfassers auszustatten. Paul Auster ist so ein Schriftsteller, dem immer wieder vorgehalten wird, dass er eigentlich stets dasselbe Buch schreibe und zudem im Grunde immer ‚nur‘ über sich selbst. Ersteres ist schlichtweg falsch und letzteres auch nicht ganz richtig. Karl Ove Knausgård umgeht solche Vorwürfe hingegen von vornherein und hält sich weder mit Fragen nach den generellen Möglichkeiten des Erzählens von Erlebtem noch nach der Fiktionalität aller Rekonstruktion auf. Nachdrücklich betont Knausgård stattdessen das, was er anbietet: ein Mann, sein Leben und die Idee, möglichst wahrhaftig davon zu erzählen. Das sind die drei Grundzutaten, aus denen seine Bücher gemacht sind, die zudem sprachlich wie inhaltlich unkompliziert und sehr zugänglich erzählt sind, weil Knausgård als Knausgård sich auf die im jeweiligen Lebensabschnitt wesentlichen Themen konzentriert. „Kerniger Naturbursche aus Norwegen schreibt auch gute Bücher“ könnte das Zwischenfazit lauten, doch da ist noch mehr, sogar abgesehen von dem fotografisch zuhauf eingefangenen Holzfällersexcharme des Autors, der sicher nicht nur das Herz der taz-Rezensentin Birgit Schmitz höherschlagen ließ, „die an Karl Ove Knausgård verloren ging.“

Kein Spektakel

Das Besondere an Knausgårds Autobiographie ist die Abwesenheit allen Spektakels, aus der der Autor seine nüchterne Glaubwürdigkeit bezieht. Sein Schreiben, das übrigens wirklich niemals an Marcel Proust gemahnt, hat eine fundamentale Ähnlichkeit mit den schönsten Passagen der Romane Haruki Murakamis, solchen Textstellen nämlich, in denen Murakami seine Helden sorgfältig, langsam und mit Bedacht das Essen zubereiten lässt. Murakamis Kochszenen sind wunderbar, weil es wunderbar ist, der alltäglichen Selbstverständlichkeit und Routine fremder Leben zu folgen, dann, wenn man von ihnen lesen kann. Aufgeschrieben entfalten all diese vollkommen normalen Verrichtungen eine ganz besondere Ordnung, folgen einer einfachen Logik und ergeben am Ende einen Sinn, weil der Autor Murakami das Gesamtgefüge seines Textes mit solchen Passagen anzureichern versteht, die eine Stimmung transportieren, zu der man nicht nur Bilder, sondern auch einen ganz bestimmten, gediegenen Soundtrack im Ohr hat. So verhält es sich auch mit dem Knausgård-Effekt: der Tod seines Vaters, die Liebe zu seiner Frau und die gemeinsame Familiengründung, Kindheitserinnerungen – wiederum dominiert von der Gestalt des Vaters –, und das Erwachsenwerden sind die Themen, mit denen Knausgård in allein vier von sechs Bände viele hundert Seiten gefüllt hat, wirklich Außergewöhnliches sucht man hier aber vergebens. Und genau darin steckt die Qualität dieser autobiographischen Romane. Während Murakamis Helden einfache, aber sicher schmackhafte Gerichte kochen, brennt bei Knausgårds zuhause schon mal die Milch an, aber das macht nichts, denn am Ende ist alles gut, weil es geschrieben wurde und der Leser sich gemütlich darin einrichten kann, selbst wenn dem Erzähler unbehaglich zumute ist: „Das alltägliche Leben mit seinen Pflichten und wiederkehrenden Abläufen war etwas, das ich ertrug, nichts worüber ich mich freute, nichts, was mir einen Sinn gab und mich glücklich machte. Es ging nicht darum, dass ich keine Lust hatte, den Fußboden zu putzen oder Windeln zu wechseln, sondern um etwas Fundamentaleres, dass ich in dem mir nahen Leben keinen Wert erblickte, mich stattdessen unablässig fortsehnte und dies schon immer getan hatte.“ (Lieben)

Das Leben Knausgårds ist kein raffinierter Spiegel gesellschaftlicher Zusammenhänge und es ist auch keine klassische Künstlerbiographie, denn seine Sorgen und Nöte sind zumeist profaner Natur. Ein populärer Schriftsteller ist Knausgård – vor allem im Feuilleton und weniger anhand seiner Verkaufszahlen, wie Tim Parks im Blog der „New York Review of Books“ unlängst zeigen konnte – nicht trotzdem, sondern genau deswegen, durch den Erfolg seiner Lebensgeschichte. Die ersten vier Bände von Min Kamp lassen sich in ihrer Gesamtheit auch als die Chronik eines Autor-Werdens lesen, das sich beizeiten hinter der Normalität des Alltags verbirgt, aus diesem Anspruch aber nie einen Hehl macht. Knausgård weiß ziemlich genau, was er will, und sein Leben ist das, was passiert, während er an den Büchern schreibt, in denen er über sein Leben als Werk nachdenkt: „Die Frage des Glücks ist banal, was jedoch nicht für die nachfolgende Frage gilt, die nach dem Sinn. Mir kommen die Tränen, wenn ich ein schönes Gemälde sehe, jedoch nicht, wenn ich meine Kinder sehe. Das heißt nicht, daß ich sie nicht liebe, denn das tue ich, von ganzem Herzen, es bedeutet nur, dass der Sinn, den sie schenken, kein Leben ausfüllen kann. Jedenfalls nicht meins.“ (Sterben)

Im Bett mit dem Leser

Knausgård ist überzeugend, weil er für jedes seiner Worte so einzustehen scheint wie für seine Erinnerungen, und man glaubt ihm beides. Selbst weniger wohlwollende Kritiker ziehen kaum in Zweifel, dass sich Knausgårds Schreiben dem, was der Mensch Karl Ove sein mag, größtmöglich annähert, obwohl doch klar sein muss, dass wir es auch hier mit einer arrangierten Auswahl von Erlebnissen zu tun haben. Da kann der Autor noch so oft beteuern, dass er der Fiktion nicht mehr traue. Zugegeben, die Grenzen zwischen Autor und Erzähler sind durchlässig, denn das ist das Konzept des Ganzen, wobei ein recht einhelliges Urteil auf Unverständnis stößt: Warum gilt ausgerechnet ein Schriftsteller, der vorgibt, nur aufzuschreiben, was ihm selbst widerfahren ist, dem Feuilleton als einer der mutigsten seiner Zeit? Knausgård bedient, was wir uns lange nicht trauten. Er führt hinter die Fassade des Schriftstellerseins, gibt scheinbar alles von sich preis und ist das Gegenteil eines zurückgezogenen Intellektuellen, obwohl er immer wieder betont, dass ihm öffentliche Auftritte eigentlich gar nicht recht seien. Aber was soll man machen, die Miete will bezahlt werden: Der voyeuristische Leser darf endlich mit Fug und Recht schmökern, denn hier ist einer, der passabel schreiben kann, recht schlaue Dinge denkt und sich dem Publikum trotzdem nicht entzieht. Und damit ist vielleicht auch die Antwort gefunden, warum Knausgård zwar in der internationalen Presse allerorten vertreten ist, aber viel weniger in den Händen der Leser, dort also, wo Bücher doch eigentlich mal hingehörten. Nicht nur Spiegel Online berichtete von einem amerikanischen Knausgård-Hype, verkauft haben sich in den USA tatsächlich aber nur 32.000 Exemplare der ersten drei Bände (ohne E-Book-Anteil), in Großbritannien waren es im Juli diesen Jahres 22.000 Kopien, so Tim Parks. Sein Erfolg als Schriftsteller ist also weiterhin, wie im Falle seiner zwei ersten Bücher vor Min Kamp, weitestgehend auf Norwegen und Skandinavien insgesamt beschränkt, in anderen Ländern ist das mediale Echo um ein Vielfaches größer als die Rezeption.

Knausgård will nicht durch sein fiktionales Schaffen verstanden werden und über ein Leben liest es sich eben auch gut im Boulevard. Aber ist das wirklich mutig? Auch hier zielt die Antwort in eine klare Richtung, denn man kann es mutig finden, von den eigenen Glücksmomenten und Misserfolgen zu erzählen, aber mal im Ernst: Man schalte das persönlich bevorzugte Streaming-Portal kurz aus und wähle einen beinah beliebigen TV-Sender, nur um erneut festzustellen, dass die Welt genau davon schon voll ist. Geschichten, die keine Geschichten mehr sein wollen, sondern wirklich wahre, authentische und gerade erst geschehene Ereignisse. Natürlich tut man einem autobiographischen Großprojekt wie diesem mit so einem Vergleich unrecht, aber Knausgårds Misstrauen gegenüber der Fiktion kann ich einfach nicht teilen. Nicht das Leben schreibt die besten Geschichten, das tun immer noch Künstler, die sich trauen, ihre Wirklichkeit der Fiktion anzuvertrauen, um damit ein Werk zu schaffen, das für sich selbst spricht, losgelöst von der Person des Autors als Fixpunkt und als Beweis. Meinem Verständnis von (künstlerischem) Mut kommt dies sehr viel näher.

Soll ich das lesen?

Aber sollte man Knausgård nun eigentlich lesen oder nicht? Sterben kann man lesen, wenn man Knausgårds Idee vom Schreiben und Leben verstehen möchte; Lieben hingegen sollte man lesen, weil es ein hochaktueller Familienroman ist, allerdings grenzt die Beschreibung von Karl Oves und Lindas Paarbeziehung beizeiten an eine Bloßstellung, die im Fall der eigenen Frau wenig elegant erscheint. In Leben ist das anders, denn hier spielt hauptsächlich Karl Oves Penis die Hauptrolle und das ist ein wirkliches Lesevergnügen, auch weil Knausgård ein ziemlich gutes Gefühl dafür entwickelt, wer er mal gewesen ist, als die Weichen für alles Zukünftige gerade erst gestellt wurden: „Ich lachte, trank und küsste, wem immer ich begegnete. Ich konnte zu einem Mädchen aus der Klasse gehen und ihr erklären, dass ich schon immer an sie gedacht und sie schon immer angesehen hätte, es war eine Lüge, aber es war effektiv, alles hatte sich geöffnet. Alles stand offen.“ (Leben) Einzig Spielen fällt aus dieser Reihe der Empfehlungen heraus, da die Kindheit ein so besonderer Lebensabschnitt ist, dessen Zauber stets weit weg und verloren scheint, wenn Erwachsene für Erwachsene von ihr erzählen. Was bleibt ist dann eine einigermaßen trübe Aneinanderreihung von sich gleichenden Tagen. Die alles entscheidende Frage kommt nun, wie es sich gehört, zum Schluss: Werde ich auch Band fünf und sechs lesen? Mit Sicherheit, denn ich muss unbedingt wissen, was er denn nun noch erzählen will, nachdem ich jetzt schon mehr über Karl Ove Knausgård zu wissen glaube, als ich jemals wollte.

 

Karl Ove Knausgård: Sterben
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
btb, 576 Seiten
Preis: 10,99 Euro
ISBN: 978-3-442-74519-7
 
Karl Ove Knausgård: Lieben
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
btb, 768 Seiten
Preis: 12,99 Euro
ISBN: 978-3-442-74685-9
 
Karl Ove Knausgård: Spielen
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
Luchterhand, 576 Seiten
Preis: 22,99 Euro
ISBN: 978-3-630-87412-8
 
Karl Ove Knausgård: Leben
Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg
Luchterhand, 624 Seiten
Preis: 22,99 Euro
ISBN: 978-3-630-87413-5

 

2 Gedanken zu „Nachsitzen mit Karl Ove Knausgård

  1. Ich hab nur einen Band (“Lieben”) gelesen, und der hat mir gereicht. Was für ein ungeheuer geschwätziger Mensch, der 600 Seiten braucht, um nichts mitzuteilen.
    Nicht einmal seine engere Heimat (Tromøya) kann er beschreiben, geschweige denn eine Stadt wie Stockholm. Seine Literatururteile kranken an seiner massiven Unkenntnis der Werke seiner Kollegen, Hamsun als Arbeiterdichter – da lachen die Hühner. Roy Jacobson als Dichter der Arbeiterpartei – plattes Bild-Zeitungsniveau; man denke nur an „Der Sommer, in dem Linda schwimmen lernte“.
    Warum ist das Buch so dick? Weil er es nicht einmal ansatzweise fertig bringt, Dinge auf den Punkt zu bringen, den Kern von etwas herauszuarbeiten. Er ist kein Schriftsteller, sondern ein grauenhafter Dummschwätzer.

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