Roland Buti beschreibt eine Welt, die im Begriff ist, vor Hitze zu zerfließen und Konventionen, Traditionen und gewisse Emotionen gemeinsam mit sich in den Untergang zu ziehen. Dieses existenzielle, schriftstellerisch exzellente Familiendrama wurde 2014 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.
Von KARIN BÜRGENER
Der Hund kippt ohnmächtig zur Seite, die Hühner fallen tot von der Stange und das Pferd sucht sich im Schatten des Waldes einen Platz zum Sterben. Seit Wochen herrscht eine unsägliche Hitze und lähmt sämtliches Leben. Die einzige Bewegung: das titelgebende Flirren am Horizont. Ort dieser Geschehnisse ist jedoch nicht etwa ein Dorf in Wüstennähe: Vielmehr ist es Schweiz, in der romantischen Vorstellung edelweißbekränzt und von glasklaren Gebirgsbächlein durchplätschert, die 1976 von einer Dürre heimgesucht wird.
Ausgerechnet in diesem Jahr hat Monsieur Sutter sich dazu entschlossen, seinem bislang traditionellen Bauernhof einen Anschluss an den Fortschritt zu verpassen und eine große Halle zur Geflügelmast errichtet. All seine Ersparnisse und einige Schulden stecken in dem stickigen Stall, in dem riesige Ventilatoren nun vergebens ihre Kreise ziehen. Einige der wenigen verbliebenen Aufgaben des Landwirts ist es nun, gemeinsam mit Knecht Rudy und Sohn Gus täglich mehr Kükenkadaver aufzusammeln.
Doch nicht nur die Hitze stellt eine existenzielle Bedrohung für die Familie dar. Ihr innerer Zusammenhalt ist gefährdet, als die aufreizende Cécile einzieht und esoterische Überzeugungen am Esstisch kundtut: „Musik ist Atmung. Die Natur atmet. Das Wasser, das schäumend um die Felsen im Fluss wirbelt, atmet, das Holz, das mit dem Wechsel der Witterung Risse bekommt, atmet […] Deshalb ist auch jedes Einatmen … wie ein Gebet … und die Musik ist der Atem des Kosmos […].“ Mit ihren unkonventionellen Ansichten verführt Cécile nicht etwa den stattlichen Familienvater, sondern die stille, unscheinbare Mutter, die kurzerhand die Koffer packt und Haus, Hof und Hühnerstall verlässt. Was noch an seinem Platz stand, geht von nun an den Bach runter, und das nicht nur sprichwörtlich.
Humorvoller Blick auf die Katastrophe
Eigentlich wäre diese Geschichte eine höchst deprimierende, wäre sie nicht aus der Sicht des dreizehnjährigen Gus erzählt. Gerade an der Schwelle zur Adoleszenz, betrachtet er das Geschehen aus einer kindlich-naiven Perspektive. Er hat das Staunen noch nicht verlernt und ihm geht trotz der ernsten Lage der Sinn für die Komik des Alltags nicht verloren. Gus ahnt jedoch schon, dass dies der letzte Sommer seiner Kindheit sein wird. Trotz – oder gerade wegen – der Hitze liegt eine Verheißung in der Luft. Nicht nur die Mutter wird von widersprüchlichen Gefühlen heimgesucht, auch Gus entdeckt eine zwiespältige Neigung zu einem seltsamen Mädchen aus der Nachbarschaft.
Im Gegensatz zu seiner älteren, schon fast erwachsenen Schwester, die sich durch musische Begabung und rätselhafte Schönheit von der Familie abgrenzt und fernab der Heimat nach einem höheren Maß an Kultiviertheit strebt, ist Gus der Natur, den Tieren und dem Elternhaus verbunden. Wie lange noch, ist allerdings fraglich, ist bei allen dreien doch nicht sicher, ob sie den Sommer überstehen.
Das Flirren einer Fata Morgana
Es sind gleich mehrere Welten, die im Begriff sind, unterzugehen. Es sind die Welten der Kindheit, der Heimat, der Ehe und althergebrachter Traditionen, zugunsten einer Moderne, die sich zwar durch ein hoffnungsvolles Flirren am Horizont ankündigt, aber ob dies eine Fata Morgana ist, weiß nur die Zukunft zu beantworten. Dass der moderne Hühnermaststall, zweifellos ein Indiz des landwirtschaftlichen Fortschritts, zur Leichenhalle wird, lässt zumindest einen Teil der Zukunft als einen ziemlich fragwürdigen erscheinen.
Bemerkenswert an dieser Erzählung ist neben ihrem Spannungsaufbau (Wann kommt endlich das Gewitter? Wann rastet der Vater aus? Was wird die Mutter tun?) vor allem ihr Humor, der ihr trotz brenzliger Situationen und teils tödlicher Katastrophen nicht verloren geht. Hinzu kommt, dass sich die Sprache des Erzählers zum Glück deutlich von der seiner Figur Cécile unterscheidet.
Hinter diesem mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichneten Werk steht ein Autor, der ein tiefes Verständnis für seine Figuren besitzt. Ob es daran liegt, dass der promovierte Historiker und Literaturwissenschaftler Roland Buti an einem Gymnasium unterrichtet? Jedenfalls erscheint er als wohlwollender, nicht urteilender Schöpfer seiner Charaktere, die er mit einem humorvollen, aber niemals böswilligen Blick betrachtet.
Roland Buti: Das Flirren am Horizont
Aus dem Französischen von Marlies Ruß
Nagel & Kimche, 192 Seiten
Preis: 18,90 €
ISBN: 978-3-312-00636-6