Vor der Premiere von Einsame Menschen am Deutschen Theater in Berlin im Jahr 1891 schrieb Gerhart Hauptmann: „Die kommende Premiere war schon Wochen vorher die allgemeine Sensation. Die Billethändler nahmen hundert bis doppelt so viele Mark für eine Karte.“ Nun inszenierte Roger Vontobel am Schauspielhaus Bochum seine Einsamen Menschen und auch hier war der Zuspruch zwar nicht Wochen, so doch viele Tage vorher, enorm – das Bochumer Publikum sah sich nicht nur begeistert die Premiere, sondern auch zwei öffentliche Proben an.
von NADINE HEMGESBERG
Grau in Grau sitzen sie da, die zwei Generationen der Familie Vockerat – zeitlose Spießbürgerlichkeit im fast requisitenlosen Kammerspiel von Roger Vontobel. Fünf Stühle stehen in der Mitte auf der von Vontobel selbst konzipierten kompassartigen Drehbühne, die Hälfte des Zuschauerraums ist abgetrennt, auch auf der Bühne selbst ist eine Tribüne aufgebaut. Im großen Haus kommt man dem Geschehen ungewohnt nah und blickt die gegenüberliegenden ZuschauerInnen manches Mal direkt an. Das ist Vontobels Konzept, dem Scheitern dieser ganzen Familie auf den Leib zu rücken, in den Mikrokosmos der Beziehungen einzutauchen.
Ohne großen religiösen Zauber
Die Taufe des kleinen Philippchen wird gefeiert, Käthe (Jana Schulz) und Johannes Vockerat (Paul Herwig) sollten eigentlich ganz und gar glücklich und fidel am Müggelsee ihr Dasein feiern. Begleitet wird die Zeremonie von zwei Musikern (Tomas Möwes mit Gesang und Matthias Herrmann am Klavier und Cello), „Das Apfelbäumchen“ von Reinhard Mey wird gar ausgelassen von Vater Vockerat (Michael Schütz) mit dem gesamten Publikum angestimmt. Aber dieses Hauptmann’sche Drama wäre keines, gäbe es nicht die ein oder andere erschütternde bis katastrophale Begebenheit. Käthe ist nach der Geburt des kleinen Philipp ein Schatten ihrer selbst, fahl und erschöpft sieht sie aus – früher hätte man es Wochenbettdepression genannt, heute ist es die postnatale Depression. Auch der Konflikt zwischen Johannes und seinem Freund, dem Maler Braun (Felix Rech), kündigt sich früh an, will der doch so gar nichts am Hut haben mit der religiös-ehrfürchtigen Taufangelegenheit und dem verstaubten Bürgertum und der Engstirnigkeit seines Freundes Hannes – auch wenn Vontobel hier den religiösen Hintergrund der Familie äußerst dezent hält. Und dann erscheint auch noch die Studentin Anna Mahr (Therese Dörr) im gelben Kleid (Kostüme: Tina Kloempken) und im Licht der bis zum Anschlag aufgedrehten Scheinwerfer. „Ich habe schon so viel von ihnen gehört“, ertönt es fast wie aus einem Mund bei Johannes und der Mahr, und Käthe stolpert vorausdeutend von der Treppe. Sie haben sich erkannt, noch ehe sie sich kennen, (noch) nicht im biblischen Sinne, so doch ganz und gar auf geistiger Ebene – man diskutiert über epikuräische Gärten und die Literatur und nimmt gemeinsam die reifen Trauben von den Rebstöcken. In ihr findet Hannes sein intellektuelles Pendant, doch können Mann und Frau befreundet sein? Diese Frage ist ein Evergreen. Fadenscheinig verzweifelt ringen sie fast bis zum bitteren Ende: „Es ist doch gar nichts geschehen“, „…es ist Freundschaft“.
Weiblichkeit und Männlichkeit
Um 1900 war der Mann und sein Männlichkeitsideal ganz schön in der Krise und die Frau im gängigen Sexualdiskurs degradiert zur entsexualisierten Mutter oder stigmatisiert als die ewig hysterische Verführerin. Eben jene Diskurse spiegelt auch Hauptmanns Drama wider, und eigentlich sollte man sich eher wundern, als freuen – jedenfalls auf rein stofflicher Ebene –, dass Vontobels Inszenierung auch auf dieser Ebene so zeitlos erscheint, auch wenn es sich in der gegenwärtigen Gesellschaft gewiss eher um weiße Alphamännchen und noch immer vorherrschenden Sexismus gegenüber Frauen handelt.
Paul Herwig spielt den Johannes als unvernünftigen Egozentriker, der nur um sich selbst kreist (die immer schneller im Uhrzeigersinn rasende Drehbühne mit Johannes und der Mahr im Mittelpunkt verdeutlicht dies wunderbar). Unkontrolliert fährt er aus der Haut, ein Hedoniker, der alles vereinen und nichts verlieren will. Jana Schulz, in ungewohnt zurückhaltender Rolle, legt ihre Käthe als leidende, doch würdevolle Ehefrau an – gehüllt in ein graues Etuikleid , Absatzschuhe für die sonst zumeist barfuß spielende Schulz und mit langer blonder Perücke. „Zum Wegwerfen bin ich zu gut“, sagt sie an gegebener Stelle. Sie wird über das Verhältnis von Johannes und Anna halb verrückt, aber brechen wird sie nicht, kurz knickt sie ein, als die Leiche von Johannes gefunden wird, der sich lieber selbst richtet, als nicht der zu sein, für den er sich hält, und Käthe steht am Ende aufrecht da, den kleinen Philipp im Arm. „Wenn alle Hoffnungen verdorr’n, mit dir beginn ich ganz von vorn“ heißt es im Apfelbäumchen.
Vontobel ist hier ein rundes und eben zeitloses Stimmungsbild gelungen, das musikalisch fein ausgearbeitet immer wieder Themen aufgreift, andeutet und untermalt. Eine Raffung hätte dem zweiten Teil der Inszenierung vielleicht gut getan – das retardierende Moment nicht allzu lange zögernd und erklärend in der Luft haltend, sondern gleich zum großen Scheitern ansetzend. Das Ensemble ist hier in seiner gemeinschaftlichen Leistung hervorzuheben, ebenso Katharina Linder, die ihre Mutter Vockerat mit sehr viel Herzblut und zum Ende kurzen, aber markerschütternd kalten Regungen gibt.
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