„Ich habe mich im Belvedere derart in einen außergewöhnlich schönen Jüngling namens Apollo verliebt, daß ich gar nicht anders kann, als normalerweise zweimal am Tag seine himmlischen Schönheiten zu kontemplieren“ – so beschreibt der Mantuaner Adlige Francesco Maffei in einem Brief 1517 sein Liebesverhältnis zum berühmten Apoll vom Belvedere. Mit seinem Verlangen steht er nicht allein. Vielmehr werden in der Frühen Neuzeit in breitem Umfang das Wesen der Kunst und der Umgang mit ihr in den Liebeskategorien von Begehren und erotischer Erfüllung erfasst – so das Ergebnis von Ulrich Pfisterers Studie Kunst-Geburten.
von NORBERT SCHNABEL
Pfisterer, Kunsthistoriker an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und ausgewiesener Renaissance-Kenner, hat sich ausgiebig mit der Erotisierung der Kunst im Europa der Frühen Neuzeit beschäftigt – die Ergebnisse seiner Forschungen hat er nun in einem Buch zusammengefasst, das verblüffende Zusammenhänge offenbart.
Pfisterer geht es darum, die damaligen Vorstellungshorizonte und Visualisierungen für „Kunst-Geburten“ und „Kunst-Liebe“ sichtbar zu machen. Warum war dieses Konzept und Vergleichsmodell, so seine Ausgangsfrage, so überaus erfolgreich und omnipräsent?
Mit Liebe gemacht
Zahlreich sind die Beispiele, die er anführt, um zu verdeutlichen, wie häufig in Wort und Bild erotische Anziehung, Zeugungs- und Gebärfähigkeit als Analogien für die Bedingungen und Prozesse künstlerischer Produktivität und Rezeption fungieren. Ein Werk „mit Liebe“ gemacht zu haben und es dann „mit Liebe“ zu betrachten, wird geradezu zur stehenden Redewendung und zum Qualitätskriterium für Kunst. Künstler, Sammler und Autoren verstehen sowohl die Produktion wie auch das Betrachten, ästhetische Genießen und Sammeln von Kunstwerken als „Liebesakte“.
Die Grundlagen für solche sexualisierten Vorstellungen und Metaphern lieferten antike Texte: „Mit deren obsessiver Rezeption durch die Humanisten scheint auch die Parallele von biologischem und künstlerischem Produzieren wieder besonders aktuell geworden zu sein.“ Schon am mythischen Ursprung der Bildkünste steht die Liebe: Antike Autoren erzählen von der Tochter eines griechischen Töpfers, die den Schatten ihres Geliebten mit Kohle an die Wand zeichnete, als dieser in den Krieg ziehen musste. Der Vater modellierte sodann den Umriss aus Ton. Zeichnung, Malerei und Skulptur entstanden nach dieser Legende gleichzeitig aus der Vorahnung vom Verlust des geliebten Jünglings.
Überbordende Potenz und sexuelle Sublimierung
Bereits Cicero hatte auf die sehr ähnlich klingenden Begriffe für Penis (penis), Pinsel (pennellus) und auch Schreibfeder (penna) hingewiesen. Diese Verbindung wird im 16. Jahrhundert für ein häufig verwendetes Wortspiel genutzt, wenn etwa Pietro Aretino den Geschlechtsverkehr als „den Pinsel ins Farbtöpfchen tauchen“ umschreibt. Der konkrete Liebesakt war in diesen Zusammenhängen offensichtlich besonders geeignet, die herausragende künstlerische Qualität eines Werkes und die von ihm hervorgerufene Anziehung auf den Betrachter zu verdeutlichen. Als radikalstes Ergebnis dieser Wirkkraft und zugleich Kennzeichen des vollkommenen Bildwerks galt bereits in der Antike das Skandalon der Statuenliebe. Bekanntestes Beispiel hierfür ist der Bildhauer Pygmalion und seine von Venus zum Leben erweckten Statue Galatea. Ebenso berühmt ist das Standbild der knidischen Aphrodite, von dem antike Autoren berichten, dass sich hinten an ihrem Schenkel ein Fleck befunden habe, der von der nächtlichen Umarmung durch einen jugendlichen Liebhaber (und dessen Erguss) herrührte. Überbordende Potenz und sexuelle Sublimierung wiederum „zielen in diesen Zusammenhängen auf entsprechende künstlerische Ausnahmeerscheinungen und auf geistige Zeugungsakte als Resultat von Verausgabung oder Aufsparung“.
Geistes-Schwangerschaften und Geistes-Kinder
Nicht nur erotisches Verlangen und der sexuelle Akt wurden zur Analogiebildung herangezogen, sondern ebenso Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt und Kinderaufzucht. In den theoretischen Texten und Äußerungen der Frühen Neuzeit ist denn auch häufig von „geistigen Schwangerschaften“ und Werk-Geburten die Rede (wobei Männer offensichtlich ohne Mühe für sich reklamieren konnten, schwanger zu werden und Werke zu gebären). Die künstlerische Schöpfung wird schließlich als Resultat einer eheähnlichen Liebe zur Kunst mit gemeinsamen „Geistes-Kindern“ gesehen. Kinder, Schüler und Werke gleichermaßen verhelfen ihrem Künstler-Erzeuger schließlich zu ewigem Leben und unsterblichem Gedächtnis.
Pfisterer vermittelt kenntnisreich, wie allgegenwärtig in der Frühen Neuzeit biologisch-sexualisierte Kreativitätsmodelle und -metaphoriken gewesen sind. Schwer greifbare Produktionsvorgänge wurden auf diese Weise in geläufige Vorstellungen übersetzt und nachvollziehbar. Pfisterer sieht in dem sexualisierten Kunstdiskurs der Frühen Neuzeit die Voraussetzung für die Entstehung des neuzeitlich-westlichen Kunstbegriffs, der erst im 18. Jahrhundert mit der Kategorie der „Schönen Künste“ seine eigentliche Kontur erhält.
Kunst-Geburten ist ein ebenso überzeugender wie unterhaltsamer Essay, der dank vieler Schwarzweiß-Abbildungen immer auch zeigt, wovon er spricht. Ohne Vorkenntnisse über die wichtigsten thematischen Akzente, die die Renaissance-Kunst und ihre herausragenden Künstlerpersönlichkeiten gesetzt haben, dürfte sich die Lektüre aber mühsam gestalten. Wem jedoch die Frühe Neuzeit etwas näher vertraut ist, darf sich auf eine ebenso erhellende wie vergnügliche Lektüre freuen!