Zentralabitur-Alarm: Die Bochumer Kammerspiele zeigen Schillers Kabale und Liebe. Für Schiller-Neulinge eine der seltenen Gelegenheiten, den Stoff textgetreu und ohne störende Inszenierung auf sich wirken zu lassen. Der Rezensent blieb mit Teilen des Publikums ratlos zurück. Eine Spurensuche.
von FABIAN MAY
Wenn man eines der berühmtesten deutschen Stücke auf die Bühne stellt, zumal eines aus der ungestümen Zeit des Sturm und Drang, welche Metapher eignet sich da besser als die der durchgezogenen Linie? Welche wäre deutscher und zugleich (Vorsicht, Wortwitz) überholter als sie? Sie markiert ein Verbot, doch jeder Verkehrsteilnehmer weiß: Wenn man sie unbemerkt überfährt, wird nichts passieren.
Das ist hier die Ausgangssituation. Friedrich Schillers Kabale und Liebe wird gegeben, in den Kammerspielen im Bochumer Schauspielhaus. Es geht um bürgerliche Moral, adlige Verderbtheit und darum, wer den Verkehr zwischen verliebten Adelssöhnen und Bürgertöchtern regeln darf.
Die fast leere Bühne wird dominiert vom weiß markierten Grundriss einer engen Wohnung. Es sind die Grundfesten der bürgerlichen Kleinfamilie. Die bürgerlichen Millers (groß in kleinen Rollen: Bernd Rademacher und Anke Zillich) und die Liebenden (die stolz leidende Friederike Becht und der trotz Knieband-Riss sehr bewegte Nils Kreutinger) respektieren diese imaginären Schwellen; alle anderen laufen achtlos darüber.
Inszenierung ohne Inszenierung
Dieses Bühnenbild und die souveräne Leistung des Ensembles, das es bespielt, sind das Auffälligste an dieser Inszenierung des Intendanten Anselm Weber. Zwar läuft der Stürmer und Dränger Ferdinand zwischen den vornehm gekleideten Herren (präsent: Felix Vörtler, souverän hinterhältig: Florian Lange, hintergründig: Daniel Stock), der Lady (zerbrechlich: Kristina Peters), der Hofschranze (gekonnt schrill: Roland Riebeling) und der braven Luise als Einziger in lässig modernen Klamotten herum. Doch sonst verzichtet Weber auf den Versuch der Aktualisierung.
Und auf den Versuch der Inszenierung. Er will ganz offensichtlich nicht, dass die Deutung dem Stoff im Wege steht. Der Stoff (von der Zerstörung einer Liebe durch die Macht der ständischen Verhältnisse) ist reich an Geist – „Unglücklich bist du schon; willst du es auch noch verdienen?“ –, und er war mal ein Politikum: Er behauptet bürgerliche Bodenständigkeit und Aufrichtigkeit als moralisch überlegen gegenüber dem Ehrgeiz und der Intriganz des Adels. Doch zugleich hebelt er beide Wertesysteme aus, indem er die Idee der Freiheit auf die historische Bühne bringt; eine Idee, die (so heißt es im Programmheft) „dem Prinzip der Mäßigung nicht unterlag“.
Stichwort Freiheit: Den Ruhr-Nachrichten gab Anselm Weber den Hinweis, es gehe ihm um das historische Los der Menschen, die sich einst die Freiheit von Eltern und anderen Autoritäten erst erkämpfen mussten; und selbst heute lebe in Deutschland nicht jeder in Freiheit.
„Er wird nicht klug daraus werden“
Zeitgemäße Deutungsfolien sind denkbar: Zwangsverheiratung in traditionsverhafteten Milieus, Verkauf von Soldaten an den Tod, um den eigenen Wohlstand zu festigen, Knechtung der kleinen Leute durch neoliberale Auswüchse. Doch welche davon sind gemeint?
Die Rahmung aus Schillers Abhandlung Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet und die Beschwörung des Programmhefts, die Mimesis des Theaters entfalte Wirkungen weit über die Bühne hinaus (Gunter Gebauer/Christoph Wulf), behaupten, dass es um Theater geht. Und um die Welt außerhalb.
Doch das bleibt ein Allgemeinplatz, weil die Inszenierung keine Stellung bezieht. Sie hält es da lieber mit der Warnung des Dramentheoretikers Klaus L. Berghahn, Schiller nicht „vorschnell zu aktualisieren und zu einem der Unsrigen machen zu wollen“. Sie gibt einfach keine Hinweise. Aus Prinzip, wie es scheint.
Man kann das ins Positive wenden: So bietet sich die seltene Gelegenheit, den Stücktext bereinigt jedes Regietheater-Pomps auf sich wirken zu lassen.
Oder aber man hält es mit Schillers eigener Ambition, im Theater das allgemein Menschliche zu suchen. Dann muss man fragen: Hat uns diese sparsame Bühnenanordnung etwas Relevantes zu sagen, oder ist sie nur die dead body outline eines historisch erkalteten Stoffs? Wir bekommen das Stück doch hier und heute vorgesetzt und sollten uns mit der historischen Stillstellung eines Stoffs nicht zufrieden geben.
„Die Buchstaben liegen wie kalte Leichname da“
Soll es das am Sonntag in Bochum gewesen sein: Durchgezogene Linien werden überschritten und wertetreue Menschen werden von rücksichtslosen Intriganten ins Unglück gestürzt? Da kann sich das Theater gleich ganz von seinem öffentlichen Auftrag als moralische Anstalt zurückziehen. Oder um es mit einem weiteren Weber-Allgemeinplatz aus den Ruhr-Nachrichten zu sagen: „Die Hinwendung zum Privaten ist stärker geworden.“ Das ist zu kritisieren. Da zieht auch der Umstand, dass Schiller kurzfristig für das nicht rechtzeitig fertig gewordene Hans im Glück von Reto Finger eingesprungen ist, als Ausrede nicht.
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