Die Einzigartigkeit einer Nicht-Metropole

Jörg Albrecht ist jung, vielbeschäftigt mit unzähligen und weitreichenden Ideen, auch über Text- und Genregrenzen hinweg. So bedeutete die Veröffentlichung seines neuen Romans Anarchie in Ruhrstadt beispielsweise nicht, dass es sich um ein abgeschlossenes Kapitel handelt. Vielmehr wurde das Konzept erweitert und Albrecht organisierte im September zusammen mit mehreren Performancegruppen zwischen Mühlheim und Oberhausen die Ur- und gleichzeitig Letztaufführung der dynamischen Theatertour 54. Stadt.

literaturundfeuilleton traf den Romanautor während einer Probenpause in Oberhausen, im Roman das Zentrum des als Ruhrstadt zusammengeschlossenen Ruhrgebiets. Wir sprachen u.a. über seine Projekte, den Kulturbetrieb und den Strukturwandel im Ruhrgebiet.

von PIA ALEITHE und NADINE HEMGESBERG

Pia Aleithe: Dein Roman Anarchie in Ruhrstadt liefert ja die Vorlage zu deinem jetzigen Theaterprojekt 54. Stadt, das du grade in Oberhausen und Mülheim inszenierst. Wie laufen denn die Proben?

Jörg Albrecht: Es läuft ganz gut, ist aber noch sehr sehr viel Arbeit. Das Ganze ist ein logistisches Großunternehmen, allein schon, weil vier bis fünf Performance-Gruppen beteiligt sind und noch eine Band und alles zudem an verschiedenen Orten stattfindet. Und von daher pendeln wir grade hin und her zwischen den szenischen Proben für unseren Part, der auch Anarchie in Ruhrstadt heißt und am ehesten eine Adaption des Romans für eine Bühnensituation ist, und den anderen Baustellen für diese Tour. Im Ringlokschuppen (Mülheim a.d. Ruhr) gibt es eine Location und dann gibt’s noch andere Stationen, an denen wird jetzt schon theoretisch und eben organisatorisch gebastelt. Es ist einfach wahnsinnig viel Aufwand.

P: Was haben die Besucher denn dann am Wochenende vom 12.09. bis 14.09. zu erwarten?

J: Im Grunde begibt man sich in die Zukunft, ins Jahr 2044, und macht einen gedanklichen Sprung mit, wobei man sich dann nicht mit der heutige Realität im Ruhrgebiet und ihren Problemen und Lösungsstrategien auseinandersetzt, also das worüber alle immer reden. Eigentlich blickt man auf eine Lösung zurück, die es angeblich gegeben haben wird, und die aber aus diesem Rückblick heraus nicht funktioniert haben wird. Im Grunde macht man eine Reflektion von dem mit, was gewesen ist, aber erlebt gleichzeitig auch, wie verschiedene Personen das Geschehen interpretieren. Das Buch ist mein Versuch, damit zu spielen, dass es natürlich nicht diese eine Geschichte gibt, die man jetzt erzählen könnte. Das ist ja eigentlich schon den Historikern seit längerem klar, dass das nicht funktioniert. Gerade in diesen Umbruchsituationen hat jeder immer eine völlig eigene Geschichte und Vorstellung von dem, was gewesen ist. Das kann man meiner Meinung nach gerade u.a. ganz gut in der Ukraine sehen, dort finde ich es zurzeit ganz virulent. Man hat teilweise aus derselben Stadt Berichte von mehreren Leuten und es sind immer ganz andere Geschichten, 5 völlig verschiedene Ansichten und Erlebnisberichte. Das hat mich beim Schreiben des Buches interessiert: Wie kann man möglichst viele verschiedene Gruppen oder Individuen zeigen, die jeweils einen ganz anderen Zugriff auf diesen Untergang der Ruhrstadt haben.

In der Inszenierung wird das dann auf einer anderen Ebene gespiegelt, nämlich dadurch, dass es die vier Performance-Gruppen gibt, die wiederum ihre Perspektive auf den Roman szenisch entwickeln. Auch das was ich jetzt mit meinen Leuten von copy&waste mache, ist keine Eins-zu-EinsAdaption des Romans, sondern der Versuch einen Dreh zu finden, die Problematik des Ruhrgebiets überhaupt thematisierbar zu machen, oder auch in einer gewissen Komplexität aufzubereiten. Die anderen Gruppen greifen sich teilweise wirklich nur Motive oder Figuren aus dem Roman heraus und versuchen darüber dann in ihren Ästhetiken etwas durchzuspielen und dieses Thema, das Ruhrgebiet in der Zukunft, zu bearbeiten. Das Tolle für mich ist, dass man herumfahren kann und an verschiedenen Orten die Gegenwart von einem Standpunkt aus sieht, den man sonst meistens nicht einnimmt, nämlich aus der Zukunft. Es geht ja sonst immer nur andersrum. Gerade hier, finde ich, in der Region.

Nadine Hemgesberg: Was findest Du an den jeweiligen medialen Möglichkeiten am interessantesten? Das Buch hat ja ganz andere Ansprüche als eben diese verschiedenen Medialitäten.

J: Die einzelnen Adaptionen werden in ihrer Medialität nochmal ganz anders oder sehr unterschiedlich sein. Die Performancegruppe LIGNA arbeitet beispielsweise eigentlich mit Audiospuren, die die Leute über Radiogeräte oder jetzt inzwischen über Smartphones zu hören bekommen. Das ist etwas ganz anderes als in einem Theaterraum zu sitzen und auf die Bühne zu gucken. Ich würde natürlich nie sagen, dass das eine dem anderen irgendwie überlegen ist oder so.

Zuerst war die Inszenierung von copy & waste geplant und ich wollte, weil das jetzt auch schon 2 ½ Jahre im Gange ist, wenn nicht sogar länger, dieses Buch parallel dazu schreiben. Die Projekte waren immer schon im Austausch miteinander; der Titel z.B. ist noch viel älter. Der stammt eigentlich von einem Kollegen, Steffen Klewar von copy & waste. Der hatte schon vor 10 Jahren die Idee einen Abend zu machen, der Anarchie in Ruhrstadt heißt. Es spukten also sowieso sehr lange Zeit sehr viele Ansätze herum. Aber es ist natürlich klar, dass man Roman und Inszenierung nicht gegeneinander ausspielen kann und sollte. Die Möglichkeit, solch eine Tour zu machen, auch gerade jetzt mit so vielen Leuten, die es dem Zuschauer über eine so lange Zeit ermöglicht, in eine Welt einzutauchen, das ist natürlich nicht vergleichbar mit einem Roman. Aber in gewisser Weise macht ein Roman etwas ähnliches, vor allem muss man sich auch für einen Roman Zeit nehmen. Und ein Roman hat natürlich in sich wieder eine ganz eigene Zeitlichkeit.

P: Mich hat an dem Konzept der Geschichtlichkeit in dem Buch besonders beeindruckt, dass es sich beim Ruhrgebiet eigentlich um eine Region handelt, die immer nur in ihrer gerade aktuellen Version so ein Exposé für das nächste riesengroße Ding ist. Das Buch ist ja auch gleichzeitig sowohl vom heutigen Zeitpunkt aus ein Rückblick, als auch ein Ausblick auf das, was noch kommt. Liegt dieser Idee die Ansicht zugrunde, dass Geschichte sich auch immer in einer gewissen Weise wiederholt oder hast du einen anderen Zugang zur Geschichte?

J: Das würde ich eigentlich so nicht sagen. Ich glaube, es stimmt einfach nicht. Bestimmte Muster in Gesellschaften wiederholen sich oder zwischen Staaten, wenn es z.B. um Kriege geht. Aber ich glaube, Geschichte wiederholt sich absolut nicht.
Der Exposé-Gedanke basiert eigentlich auf einer Kritik zu meinem letzten Buch Beim Anblick des Bildes vom Wolf, in der jemand geschrieben hatte, der Text sei eigentlich wie ein Exposé für ein Buch, aber es sei eben selbst kein Buch. Und ich fand das als Beschreibung gar nicht so schlecht. Ich habe den Text darin wiedererkannt und fand den Ansatz zutreffend. Und es ist ja genau das, was ich wollte. Es wird in Beim Anblick des Bildes vom Wolf sehr viel angerissen und es wird nicht in der Form auserzählt, wie das jemand erwartet, der vielleicht auf realistische Settings steht oder auf ausfabulierte Texte. Es war zwar eine negative Wertung, aber der Gedanke stimmt. Somit war es eigentlich ein Kompliment. Schade, dass der Rezensent nicht gesehen hat, dass das ja im Zweifel die Qualität des Ganzen sein könnte. Ich habe das in Anarchie in Ruhrstadt wieder aufgegriffen, weil es hier im Ruhrgebiet auch immer ein bisschen den Eindruck macht, als arbeite man grad an der Umsetzung eines Exposés. Historisch betrachtet ist ab dem Moment, wo man überhaupt von dieser Region als Einheit spricht, immer ein Versprechen da, dass es noch größer werden wird. Selbst als der Peekpoint schon erreicht war, hat man immer noch für viel mehr Menschen geplant, als je darin wohnen würden. Man sieht das sogar ganz konkret im Stadtbild, z.B. in Mülheim, aber auch in Bochum lässt sich das beobachten: In den U-Bahnen sind teilweise diese Eingänge super monströs. Es ist eine Architektur, die mehr Menschen fassen sollte. Und dazu ist es gar nicht mehr gekommen. Das hat natürlich mit der Geschichte von Industrie generell zu tun. Und in den anderen Stufen, die danach kamen. Es geht immer darum, dass es wieder größer werden soll und um das Versprechen auf mehr.

Da stellt sich für mich schon die Frage: Warum muss es eigentlich mehr sein? Können wir nicht mit dem umgehen, was da ist? Es ist doch unglaublich viel da. Diese Haltung, es müsse noch größer sein, macht eben das klein, was da ist. Das finde ich schade. Andererseits beinhaltet es natürlich auch Hoffnung, wenn man sagt, es sei eben nur ein Exposé, dann lässt sich ja noch etwas verwirklichen. Es ist auf einer philosophischen Ebene für mich der Horror zu sagen, meine Selbstverwirklichung sei gelungen. Was will man dann überhaupt noch in der Welt? Warum will man dann überhaupt noch mit anderen Menschen zu tun haben, wenn eh schon alles perfekt ist? Ich finde es doch gut, dass das Ruhrgebiet so eine brüchige und unfertige Gegend ist. Das ist etwas, was ich tatsächlich immer sehr gemocht habe. Auch wenn ich nach meinem Umzug nach Berlin wieder beruflich oder zu Besuch ins Ruhrgebiet zurückkomme. Bei allem was auch schwierig ist und was sich nicht wegreden lässt, habe ich das Gefühl, dass es eigentlich besser wäre, das mal anzunehmen und daraus etwas zu entwickeln, und nicht zu versuchen, z.B. die Creative City von Richard Florida auf Biegen und Brechen hier aufzubauen, die das Ruhrgebiet eben einfach nicht ist.

N: Das ist dann natürlich eine krasse Kritik an dem ganzen Kulturhauptstadt-Bohei, die Du da vornimmst. Ist das auch gescheitert, Deiner Meinung nach?

J: Nein, das würde ich noch nicht mal sagen, weil ich glaube, dass sich auf der Ebene der Kooperation zwischen Institutionen schon viel getan hat. Dass die Leute sich zumindest teilweise erstmals kennengelernt haben, scheint mir schon ein Fortschritt zu sein. Dass nicht alle nur in ihren Städten sitzen und sich um ihr Museum kümmern, sondern Allianzen gebildet haben. Das ist natürlich auch den knapper werdenden Geldern geschuldet, die grade nach 2010 extrem eingebrochen sind. Das schafft gezwungenermaßen Allianzen. Trotz allem ist es besser, als wenn diese Allianzen nicht bestünden. Ich glaube, dass sich da schon viel getan hat. Die Frage ist, welches Image sollte da transportiert werden und vor allem, warum soll dieses Image im Nachhinein weiter gehalten werden. Ich habe wirklich Bauchschmerzen gehabt, als ich diese Metropole-Ruhr-Schilder auf der Autobahn das erste Mal gesehen habe. Ich dachte, das kann doch nicht wahr sein. Das macht ihr doch jetzt nicht wirklich. Weil es eben nicht als augenzwinkerndes Metropole gemeint ist. Wenn es das wenigstens wäre, hätte das auch schon wieder einen ganz anderen Impetus. So, also mit einem Augenzwinkern, sehen die Leute das ja hier selbst, habe ich den Eindruck. Aber wenn das Augenzwinkern nicht dabei ist, finde ich das verheerend, weil man wirklich versucht, nach außen etwas zu sein, was man nicht sein kann.

N: Und gleichzeitig schluckt es ja die Identitäten in den einzelnen Kommunen.

J: Fast jede Stadt hier ist ganz anders als die daneben liegende. Selbst Mülheim, Oberhausen, Duisburg, die sehr nah beieinander liegen. Als Dreieck betrachtet sind die trotzdem völlig unterschiedlich. Da kann man ganz verschiedene Stimmungen erleben und die Leute sind auch nicht überall gleich. Die Städte leben zum Beispiel wieder davon, welche Einwanderergruppen es gibt oder besonders stark vertreten sind. In Mülheim ist z.B. die afrikanische Community total groß. Das macht teilweise ein ganz anderes Stadtbild als wenn ich nach Duisburg gehe, wo es dann wieder anders ist. Es ist hier ja vielfältig genug. Das könnte durchaus etwas metropolenhaftes sein, aber was auf jeden Fall nicht metropolenhaft ist, ist die ganze Zeit immer davon zu sprechen, wir sind Metropole. Ich glaube, die wirklichen Metropolen haben das gar nicht so nötig, das die ganze Zeit so auszustellen. Warum muss das eigentlich sein? Kann es nicht den Versuch geben, diese Region einfach als etwas anderes zu nehmen? Vielleicht ist das ja auch was Einzigartiges.

P: In deinem Roman Anarchie in Ruhrstadt kommt 2015 nach der Abspaltung von der zentralen Regierung das Komitee der Kreativen im Ruhrgebiet zusammen, um die Zukunft der Kulturmetropole zu gestalten. Für was würdest Du Dich einsetzen, wenn du in diesem Komitee sitzen würdest?

J: Ich glaube, ich würde mich dafür einsetzen, dass man versucht eine andere Sicht auf diese Region zu entwickeln. Auf gar keinen Fall würde ich so etwas wie einen Masterplan machen, und sagen so, das ganze wird jetzt damit bewirtschaftet, und ihr seid da, ihr seid dort, ihr seid dahinten, sondern ich würde gucken wollen, was gibt es eigentlich in den einzelnen Städten, was sind deren Stärken. Jetzt grade versuchen ja eher alle Städte die gleichen Stärken aufzufahren und es werden Shoppingcenter, Konzerthäuser oder noch ein großes Museum gebaut, damit man international mitspielen kann. Man könnte aber auch einfach mal schauen, was wohin passen würde, also nicht nur kulturell, sondern überhaupt. Und tatsächlich mal gucken, was wollen die Leute eigentlich, was für Fantasien können die Leute entwickeln. Wenn man davon wieder wegkommen könnte, die Stadt nur als einen wirtschaftlichen Raum zu sehen, der entweder floriert oder nicht, sondern den Reichtum entdecken würde, der da drunter liegt, das wär was. Aber wenn man den Leuten die ganze Zeit suggeriert, dass es diesen Reichtum nicht gibt, dass sie vor allem nicht dieser Reichtum sind, dann entsteht auch nichts mehr.

Man könnte stattdessen wieder neue Hoffnung generieren, indem man die Leute vielmehr einbezieht. Ich finde z.B. ganz gut, dass in 6 Jahren zum ersten Mal dieses Ruhrparlament vom RVR direkt gewählt wird. Das wird das erste Mal etwas sein, wo man tatsächlich die Chance hat, als Bürger des Ruhrgebiets aufzutreten. Das ist jetzt ein Organ, das einfach über die Kommunen besetzt wird, über Listen, und das aufzubrechen, wird irgendwie eine ganz spannende Sache. Eigentlich müsste das die Leute viel mehr interessieren als NRW.

P: Der Charakter György Albertz im Roman drückt an einer Stelle aus, dass er das Gefühl habe, Menschen bräuchten andere Menschen als Zentrum der Gefühle, um stabil zu sein. Glaubst Du denn, dass das Ruhrgebiet auch so ein Zentrum braucht, um stabil zu sein, oder irgendwie eine zentrale Stelle, die das alles organisiert?

J: Ich weiß nicht, ob es in diesem Fall dann ein Rathaus sein muss. Das kann ja auch der Gedanke der Verbundenheit sein. Man sagt, es ist halt die Ruhrstadt, es ist schließlich schon eine Art Zentrum, auf das sich die Gedanken oder Aktivitäten richten können, aber eben auch so eine Art Verkehrsplanung. Was mir z.B. wirklich immer auffällt, dass es unglaublich teuer ist, sich hier mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu bewegen, gleichzeitig sind die Städte für Autos nicht mehr so richtig ausgerüstet, oder es ist auch dann wieder kostspielig, Parken usw. Die Infrastruktur ist für die Tatsache, dass es sich um einen so großen Ballungsraum handelt, total hinterher. Das wird zwar oft genug angemahnt, aber wenn es eine Stadt wäre, wäre ja vieles leichter zu regeln. Stattdessen gibt es überall eigene Stadtwerkegesellschaften, und der VRR ist letztlich auch nur ein loser Verbund, das steht schon im Namen. Nein, aber eigentlich glaube ich nicht, dass man einen zentralen Sitz bräuchte. Es ist vielmehr ein ganz interessanter Gedanke, das Parlament könne irgendwie dezentral organisiert sein. Gar nicht in dem Sinne, dass man nur über Video konferiert oder so, aber es könnte Modelle geben, in denen das funktionieren würde. Es gäbe dann nicht den Mittelpunkt der Stadt von dem alles ausstrahlt, vielmehr müsste man sich eben genau dafür eine Struktur überlegen. Es gibt auch Pläne diesbezüglich. Diverse Uniprojekte haben sich damit beschäftigt, u.a. aber natürlich auch Architekturbüros, die bereits Vorschläge vorgelegt haben.

Ich glaube eher, dass es so etwas wie ein emotionales Zentrum braucht. Aber das muss kein Ort sein oder keine verortbare Geschichte. Es gibt von Dirk Haas, diesem Duisburger Stadtforscher, den interessanten Gedanken, das Ruhrgebiet sei eigentlich überall Peripherie. Das Charakteristische daran sei gar nicht, dass man von Zentrum zu Zentrum gelangt wenn man es durchfährt, sondern dass man eigentlich immer den Eindruck hat: aha, ich bin jetzt am Stadtrand. Ich habe das neulich wieder selbst so erlebt als wir auf Zollverein waren mit dem Ensemble und dann zurückgefahren sind. Überall denkt man immer, ja, ich fahre, aber bin ich gerade noch in Essen, oder wo bin ich, oder bin ich jetzt schon in Mülheim? Oder auch wenn ich aktuell morgens von Mülheim nach Oberhausen fahre: Du fährst durch diese Vororte und es hat alles einen ganz ähnlichen Charakter. Man weiß einfach oft gar nicht in welcher Stadt man ist, aber man weiß immer, ok, ich bin irgendwo am Rand der Stadt. Es ist nicht das Zentrum. Es gibt überall diese kleinen Zentren mit Ladengeschäften. – Eigentlich ist das eine schöne Sache. Ich mag das. Zudem gibt es ja Aspekte, die sehr typisch für die einzelnen Städte sind. Das hat auch eine gewisse Schönheit, dieser Wechsel von einem bestimmtem Stil, der sich durchzieht, aber dann eben auch wieder Heterogenität darin oder dazwischen.

P: Im Mai wurdest du bei einem Aufenthalt in Abu Dhabi festgenommen, weil du mit deinem iPad unwissentlich Fotos von Botschaftsgebäuden gemacht hast. In einem Telefoninterview mit Der Zeit hast Du davon gesprochen, dass Du Dir eigentlich die Stadt mit Deinem Lektor zusammen ansehen wolltest, als Beispiel für eine schnellwachsende Riesenstadt, dass Ihr an Anarchie in Ruhrstadt arbeiten wolltet. Stattdessen kam es zu Deiner Festsetzung und Inhaftierung. Hatte das dann auf andere Weise einen Einfluss auf Deinen Roman?

J: Auf das Buch eigentlich nicht mehr so richtig. Wenn ich nochmal darüber nachdenke, stand alles, was jetzt im Roman da ist, vorher schon fest. Veränderungen im Roman waren da gar nicht mehr vorgesehen. An dem Tag, als ich dann aus dem Gefängnis kam, war mein Lektor noch ein paar Stunden da und flog dann schon ab. Diese dreieinhalb, vier Tage, die ich normalerweise dagewesen wäre, die hatten wir für das Lektorat eingeplant. Es war eben schon nicht mehr so super viel zu machen, man hätte das ganz gut in der Zeit schaffen können. Das war eigentlich der Grund, warum er mich gefragt hatte, ob ich da nicht mit hin will. Dass man dann einmal Zeit hat, dass man sich mehrere Tage zusammensetzen konnte. Wir dachten, das würde ganz nett.

P: Wie denkst du jetzt, einige Monate danach über Deine Erlebnisse in Abu Dhabi?

J: Im Nachhinein denke ich, man sollte in diese Länder gar nicht fahren, solange die Gesetzeslage da so „unsicher“ ist. Ich sage das jetzt aus der Erfahrung heraus tatsächlich. Dadurch dass ich nichts wirklich groß gemacht habe, aber trotzdem das Ganze so erleben musste. Ich wäre nie darauf gekommen, dass das einen so reinreitet. Ich mache mir ja auch meine Gedanken, was ist jetzt eigentlich die Hegemonialmacht des Westens? Wie kann man die Werte von anderen Menschen, die aus anderen Kulturen kommen, annehmen? Aber wenn man das jetzt einmal durchlebt hat, denkt man, es hat schon einen Grund, warum es Rechtsstaatlichkeit gibt usw. Ich habe mich wirklich dafür interessiert, wie es dort aussieht. Letztlich aber ist die Stadt an sich sehr langweilig. Das Interessante daran ist, dass es so langweilig ist, weil es überhaupt keine Öffentlichkeit gibt. Es gibt gar kein öffentliches Leben. Es ist mit den Städten hier wirklich null vergleichbar. Cafés gibt es nur in den Hotels, aber es ist nichts auf der Straße. Es gibt einfach keine Kommunikation auf der Straße. Es findet nichts in der öffentlichen Sphäre statt. Dadurch dass es in der Wüste liegt, ist es zudem so heiß, dass man gar nicht so richtig draußen sein kann. Interessante Menschen habe ich dann aber doch noch kennengelernt.

P: Ist das Kapitel Abu Dhabi denn jetzt abgeschlossen? Oder gibt es da noch irgendwelche Nachwirkungen, ein Einreiseverbot oder Papierkram den du erledigen musst?

J: Das weiß ich nicht. Das iPad habe ich noch nicht zurück. Die haben ungefähr eine Woche nachdem ich wieder in Deutschland war noch nach dem Kennwort dafür gefragt, um die Fotos zu löschen. Was wohl bedeutet, dass sie vorher das Gerät eigentlich gar nicht angerührt hatten. Und was auch heißt, dass sie nicht gut genug waren, das vierstellige Kennwort zu knacken?! Seitdem habe ich aber auch nichts mehr gehört. Ich habe das über eine Anwaltskanzlei laufen lassen, weil ich selbst mit denen nicht mehr kommunizieren wollte. Ich werde da nochmal anfragen, eigentlich möchte ich jetzt tatsächlich das Gerät zurückhaben. Also, wenn dann schon das Angebot kommt, wir löschen das jetzt, dann möchte ich es jetzt auch langsam wiederhaben. Aber mehr war da eigentlich jetzt nicht. Ich werde da bestimmt nie wieder hinreisen.

P: Sagen wir, die Motivation für eine erneute Reise in den Stadtstaat ist zurzeit sehr gering?

J: Ja, vielleicht ist es in 30 Jahren auch anders. Es ist ein bisschen schade, selbst bei Ländern wie Ägypten würde ich jetzt wirklich lange überlegen, ob ich wieder in diese ganze Region oder in diesen Teil der Welt möchte. Meine Verunsicherung habe ich dann schon ab und zu noch in Berlin gemerkt. Es hat mir noch jemand gesagt, dass ich nicht überrascht sein sollte, wenn ich jetzt vom deutschen Geheimdienst noch eine Weile überwacht werde. Einfach damit die Geheimdienste sichergehen können, dass da auch wirklich nichts war. Das war dann ein paar Wochen komisch. Aber irgendwann ist der Gedanke auch weg, ich kann mir ja jetzt nicht die ganze Zeit Gedanken machen, also wer weiß, von wem ihr jetzt geschickt wurdet. Nein, warum sollte ich mich anders verhalten, als ich mich normalerweise verhalte in diesem Land.

P: Dann wärst Du verdächtig.

J: Ja, genau dann. Das war ja der Satz, den ein Geheimdienstmitarbeiter zu meinem Lektor und Lukas Bärfuss sagte, als die versuchten, irgendwie nochmal Druck zu machen, um mich zu finden. Da meinte Lukas, ich sei total harmlos und das müsse man auch erkennen und der Geheimdienstmitarbeiter meinte, das Verdächtigste sei die Harmlosigkeit.

P: Mit diesem Satz lassen wir das Thema Abu Dhabi jetzt einfach mal stehen. Ich hätte im Prinzip auch nur noch ein oder zwei abschließende Fragen. Was kommt für Dich nach der Theatertour? Was hast Du für weitere Projekte?

J: Wir haben zehn Tage nach 54. Stadt schon wieder eine Premiere in Berlin mit einem kleinen Projekt. Das ist bei einem Festival von den Sophiensaelen, das Männer in Garagen heißt. Auf einem Garagenhof in Pankow, wo jede Künstlergruppe eine Garage bekommt und darin etwas veranstaltet. Wir werden ein Boxstudio errichten und was mit den Rocky-Filmen machen. Also eigentlich wie ein Boxverein, einen temporären Boxverein gründen. Es kommen auch noch viele andere Sachen in nächster Zeit. Ich habe noch eine Batman-Performance mit meiner Kollegin Gerhild Steinbuch zusammen. Die ist im Oktober, beim Steirischen Herbst. An diesen Sachen habe ich im Sommer schon ein bisschen gebastelt, damit nach dieser Tour jetzt nicht alles noch stressiger wird.

P: Ist auch ein neues Buch in Sicht?

J: Ja, es gibt ein Buch, das liegen geblieben ist, weil ich Anarchie in Ruhrstadt zuerst schreiben wollte. Es ist Fantasy, eine Erzählung. Aber es geht eigentlich um Menschen mit gemischter Identität, die aus verschiedenen Gründen diskriminiert werden, z.B. der schwule Türke, der dann auch noch heimlich zum Katholizismus konvertiert und solche Geschichten. Aber vielleicht schreibe ich jetzt auch als nächstes erst einen Liebesroman darüber, wie scheiße die Leute mit Liebe in Berlin umgehen, das war ein Thema im Sommer, das ich wichtig fand.

N: Der nächste große Berlinroman!

J: Vielleicht spielt es am Ende gar nicht in Berlin. Es ist jedenfalls etwas, dass nicht nur bei mir, sondern bei vielen anderen Leuten, die ich kenne, Thema war, denn alle hatten die Schnauze voll davon, und vielleicht muss man darüber jetzt einfach doch noch irgendwas schreiben.

P: Dann wünschen wir Dir für alle deine anstehenden Projekte viel Erfolg und danken Dir für das Interview.

Nächste Vorstellung von Anarchie in Ruhrstadt:
Freitag, 28.11., 19:30 Uhr, Theater Oberhausen

2 Gedanken zu „Die Einzigartigkeit einer Nicht-Metropole

  1. Spannendes interview. War bei der theatertour im September in oberhausen dabei. Das Stück hat mich leider null und gar nicht angesprochen.

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