Von Freiheit und Verlust

Cover_KarenKoehler_Wir haben Raketen geangelt_Carl HanserFast täuscht der Titel über die Ernsthaftigkeit der Erzählungen hinweg. Aber Wir haben Raketen geangelt versammelt Geschichten, die nicht bloß in lieben Erinnerungen schwelgen, sondern sich erzählend solchen Situationen annehmen, die zwischen dem Alltäglichen und dem Extremen aufgespannt werden. Indianer und Vespafahrten, Familienportraits und Eremiten sind Themen und formgebende Elemente dieser Kurzgeschichten, denen gemeinsam ist, dass ihre Protagonisten und Erzählerinnen sich der Aufgabe stellen, sich am eigenen (Kinder-)Anspruch zu messen.

von SOLVEJG NITZKE

Cowboys, Indianer, Raketen und Liebe sind der Stoff für Abenteuer und jugendlichen Überschwang. All dies gibt es in Karen Köhlers wunderbaren Erzählungen im Übermaß. Keine der Figuren, keine der Erzählerinnen und keines der Abenteuer verbleibt jedoch im flachen Retro-Schick, der im Moment so beliebten ‚Weißt-Du-Noch‘-Geschichten (Playmobil, Brauner Bär, Kassetten),  die sich um-die-Dreißigjährige anscheinend so gerne erzählen. Die Retrospektive, der die Figuren sich hier unterziehen, hat wenig oder gar nichts von dieser hippen Pose. Vielmehr gleicht die Rückwendung hier einer anstrengenden, längst nicht immer freiwillig auf sich genommenen Arbeit, von der abhängt, wie und ob es weitergehen kann im Leben.

Kein Kinderspiel

Während die Stimmen der Erzählungen sich in ihrer (Selbst-)Befragung ähneln und eine Radikalität an den Tag legen, die von Schonungslosigkeit herrührt (und manchmal tragisch endet), sprechen sie aus unterschiedlichen Situationen und von unterschiedlichen Orten aus. Sie entwickeln dabei eine beinahe rohe Unmittelbarkeit, weil sie gleichzeitig weit weg und alltäglich sind.

„Vor mir steht ein Indianer. Ich bin nicht in der Einkaufsstraße einer mittelgroßen deutschen Stadt. Ich höre auch keine Panflöten, ein El Condor Pasa. Ich bin im Death Valley und sitze auf einem Stein neben einer Tankstelle, der einzigen an diesem Highwayabschnitt, und vor mir steht ein Indianer.“

Katharina (Cowboy und Indianer) befindet sich in einer Extremsituation: ohne Wasser, Geld oder Telefon mitten in der Wüste. Hineingeraten ist sie auf banalstem Weg. Ihre Mitfahrgelegenheit, ein „Typ“, konnte die Finger nicht von ihr lassen und hat sie dann, nachdem sie ihren Unwillen kundtat, an einer Tankstelle stehen lassen – ihren Rucksack noch auf der Ladefläche seines Pick-ups. Sie ist verloren und wird gefunden. Auch hier bedarf es keiner großen Geste oder großer Worte, um eine große Wirkung zu erzielen, nur ein Angebot. „Verschwinde, Indianer, sage ich, du bist nur in meinem Kopf. Aber der Indianer verschwindet nicht, der Indianer spricht. Er sagt, dass mein Kopf krank von der Sonne ist, und dass ich trinken soll. Ich öffne die Augen und der Indianer hebt seine Hand, ich erwarte ein Howgh, aber er reicht mir nur eine kleine, halbvolle Wasserflasche.“ Im amerikanischen Westen ist Cowboy und Indianer immer noch kein Kinderspiel. Während der Fahrt durch die Wüste erinnert Katharina sich daran, dass es das für sie selbst als Kind in der deutschen Provinz auch (?) nicht war. Auf welcher Seite man steht, kann immer noch den Unterschied machen. Jedoch, das macht Köhlers Erzählungen so beeindruckend, lässt sich daraus weder eine fatalistische, noch eine tragische Lebensgeschichte automatisch ableiten. Handlungen, das stellt auch Katharina fest, beruhen doch auf Entscheidungen und lassen es manchmal zu, einen neuen, anderen Weg einzuschlagen.

Ahnenreihen und Ausbrüche

Besonders die dialogisch gehaltenen oder vielmehr die, an ein Du gerichteten, in Brief-, Postkarten- oder Tagebuchform verfassten Texte eignen sich dazu, wieder und wieder gelesen zu werden. In Polarkreis muss jemand weg, raus und sich neu ordnen – „Bin ‚Zigaretten holen‘“ steht auf dem Zettel, der auf dem Küchentisch liegt. „Polar“ geht nach Italien. Die Postkarten und wenigen kurzen Briefe sprechen von einer Suche, bei der die Suchenden nicht schon zu Beginn wissen, was sie finden werden oder wollen. Das Ausbrechen kann hier nach Hause führen oder das Zuhause zu sich holen. In jedem Fall rückt es das eigene, individuelle und einzigartige Leben in Perspektive:

„Eine komplette Stadt (Pompeji) die zugleich ausgelöscht und eingefroren wurde […] diese körperliche Manifestation des Lebens im Tode machte mich kurz zum Gaffer, weil das nicht Kunst ist, sondern Alltag […] Unfassbar:  Wieviele Menschenleben nötig waren, um mich hervorzubringen. Hoffentlich ist keiner von den Toten enttäuscht. Mir reichen schon die Lebenden.“

Karen Köhlers Erzählungen sind beides, Alltag und Kunst. Sie mögen nicht begafft werden, aber weil sie von den gleichzeitig außergewöhnlichen und doch scheinbar unausweichlichen Momenten einer Biographie handeln – Verlust, Schmerz, Krise – lohnt der Blick auf das Leben, das einen solchen Bruch erfährt. Dabei richten sie den Blick auf ein Ich, das zwar am Ende einer langen Reihe Lebender und Toter, in der Mitte oder am Rande eines Familienportraits steht, das aber keineswegs Ziel, Krone oder Mittelpunkt der Schöpfung ist. Anders als der Retro-Individualismus, der sich in egozentrischer Pseudoauthentizität ergeht, wird hier nichts so einfach erklärt. Die Vergangenheit ist hier mehr, als ein bloßes Accessoire. Es tut weh, sich an den Maßstäben des eigenen Kinder-Ichs zu messen, die Erwartungen der Liebsten zu enttäuschen. Manchmal gibt es dann noch Hoffnung, manchmal nicht. Es lohnt sich aber (so) davon zu erzählen – hier davon zu lesen lohnt sich noch mehr.

Karen Köhler: Wir haben Raketen geangelt
Carl Hanser Verlag, 240 Seiten
Preis: 19,90 Euro
ISBN: 978-3446246027

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