Mindestens drei Gründe, Irmina zu lesen

Barbara_Yelin: Irmina_Verlag: ReproduktMit Gift schaffte Barbara Yelin den Durchbruch als Comiczeichnerin. Nun erscheint die erste Graphic Novel, bei der auch das Szenario von ihr stammt: Irmina ist die typisch-untypische Geschichte einer deutschen Frau – beginnend in den 1930er Jahren. Yelin gelingt ein differenziertes Porträt ihrer Protagonistin, das zum Nachdenken anregt.

von MONIKA SCHMITZ-EMANS

Die junge Irmina von Behringer geht 1934 nach London, um Fremdsprachensekretärin zu werden. Dort freundet sie sich mit dem Oxfordstudenten Howard aus Barbados an, der wegen seiner Hautfarbe massiven Diskriminierungen ausgesetzt ist, und tritt englischen Rassisten gelegentlich lauthals entgegen. Das Pärchen muss sich trennen, als Irmina aus Geldnot, aber auch aus beruflichem Ehrgeiz nach Deutschland zurückkehrt. Ihr Plan einer neuerlichen Englandreise zerschlägt sich; die politischen Entwicklungen in Deutschland bestimmen Irminas weiteres Leben. Sie heiratet einen Deutschen, wird an der Seite ihres NS-begeisterten Mannes von einer eher unpolitischen Person zur Mitläuferin, erlebt die Desillusionierungen des Kriegs und des Zusammenbruchs, wird Kriegswitwe, mit ihrem Kind allein auf sich gestellt. 1947 kehrt sie ins Arbeitsleben zurück – trotz ihrer Tüchtigkeit ‚natürlich‘ in der ihrer Frauengeneration zugewiesenen untergeordneten Position. Aus dieser in manchem typisch wirkenden, in manchem aber auch besonderen Frauengeschichte macht Barbara Yelin eine Bilderzählung, die in mehr als einer Hinsicht lesenswert ist und zum Nachdenken motiviert.

Ein erster Reiz der Bildgeschichte – die unbeschadet aktueller terminologischer Kontroversen „Graphic Novel“ genannt sei, weil sie sich graphisch in den Spuren des literarischen Erzählens (in ‚Novelle‘ und Roman) bewegt – liegt in der Handlung selbst. Irminas Geschichte ist dreiteilig: Auf die Zeit mit Howard in London (Teil I) und die NS-Jahre in Berlin (Teil II) folgt ein III. Teil („Barbados“), in dem Irmina Howard um 1980 wiedertrifft; er ist inzwischen Generalgouverneur auf Barbados und hat sie suchen lassen. Das Treffen der beiden alternden Freunde wird zum Anlass der Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben, den eigenen Zielen und Idealen, Erfahrungen und Desillusionierungen. Neben resignativen Tönen finden sich hier auch optimistischere Signale. Howard hat auf dem postkolonialen Barbados vieles erreicht; Irmina ist sich in manchem treu geblieben.

Geschichte einer Durchschnittsdeutschen

Lesenswert ist Irmina zweitens als Buch über die Deutschen und ihre Geschichte, über eine Frau, die man mit Blick auf ihre Haltung in der NS-Zeit als ‚Durchschnittsdeutsche‘ charakterisieren mag. Erzählt wird dabei auch die Geschichte eines (fast) blinden Mitmachens, eines (fast) völligen Wegsehens bei der Judenverfolgung und -vernichtung. Als eine Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Deutsche zur NS-Zeit‘, nach Schuld und Verdrängung interpretiert des Nachwort von Alexander Korb Yelins Buch. Irminas Geschichte wird in Beziehung gesetzt zu Diskussionen über Verführte und Mitläufer. Angeregt wird so u.a. eine Auseinandersetzung mit Irmina im Kontext politischer Bildung, etwa an Schulen. Weil Yelin sich bemüht, Klischees und Einseitigkeiten zu vermeiden, d.h. weil sie ihre Bild-Biographie bezogen auf Zeitgeschichtliches ebenso wenig eindimensional anlegt wie bezogen auf die Einzelschicksale der Figuren, eignet sich ihr Buch tatsächlich als Denkanstoß und Diskussionsgrundlage. Dass in Irmina eine konstruierte Geschichte dargestellt wird (‚Geschichte‘ auch im Sinn von ‚Geschichte Deutschlands‘), ist dabei zu bedenken, schadet beim Nachdenken über ‚deutsche Geschichte‘ aber nicht. Es ist einen eigenen Lektüredurchgang wert, die Prägung des Alltagslebens in den 1930er und frühen 1940er Jahren durch das NS-Regime im Spiegel der Inszenierung durch Yelin zu beobachten – die Gewalttaten gegen Juden, aber auch die divergierenden und oft zweideutigen Reaktionen ihrer deutschen Mitbürger.

Historischer Roman und Graphic Novel

Ein dritter Grund, Irmina zu lesen, ist Yelins (seit Gift weithin bekannter) Stil als Bilderzählerin und Zeichnerin. Die Dialoge sind lakonisch und prägnant; auch abgezeichnete Schriftstücke bieten Anlass zum Nachdenken. Zeichnungen und Bildregie sind auf durchdachte Weise dem Handlungsverlauf und der Thematik angepasst: So wirken die Figuren skizziert; die Unschärfe erscheint programmatisch, wo es um hypothetische Motive und konstruierte ‚Typen‘ geht. Grautöne dominieren über weite Strecken die visuelle Darstellung eines vielfach ‚farblos‘ verlaufenden Lebens, aber an prägnanten Stellen setzen sich Farben durch: sehr schwache Frühlingsfarben in der Liebesgeschichte mit Howard, das Rot der NS-Fahnen in der Berliner Phase, ein zartes Meergrün auf Barbados.
Fazit: eine anregende, weil typisch-untypische (oder auch untypisch-typische) ‚deutsche‘ Lebensgeschichte – ein Anlass zur Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte – und eine gut gezeichnete Arbeit, die durch ihre Komplexität das Potenzial illustriert, das der Graphische Roman auch und gerade als ‚Historischer Roman‘ hat.

Barbara Yelin: Irmina. Mit einem Nachwort von Dr. Alexander Korb
Reprodukt, 288 Seiten
Preis: 39,00€
ISBN: 978-3956400063

3 Gedanken zu „Mindestens drei Gründe, Irmina zu lesen

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