1963 veröffentlichte Astrid Lindgren die ersten Geschichten über den Lausejungen Michel aus Lönneberga, der in seinem schwedischen Dörfchen allerlei Unfug anstellt. Knapp zehn Jahre später wurden Michels Streiche verfilmt und begeistern seitdem die Kinder auch vor den Fernsehapparaten. Nun spielt das Schauspielhaus Bochum als Weihnachts- und Wintermärchen Lindgrens Klassiker – und schafft es, auch ohne Modernisierungen Groß und Klein zu begeistern.
von ANNIKA MEYER
Wir alle kennen die Geschichten noch aus alten Weihnachtstagen vor dem Buch oder dem Fernseher: Auf dem Katthult-Hof in Lönneberga lebt Michel (Torsten Flassig) mit seiner Familie sowie dem Knecht Alfred (Matthias Redlhammer) und der Magd Lina (Minna Wündrich). Eigentlich eine nette Bauernhof-Idylle mit bunten Schafen, die direkt farbige Wolle produzieren, und Hähnen, deren Krähen jede tierische Musikalität übersteigt. Wenn, ja wenn Michel nicht dauernd seinen Mitmenschen, besonders Vater Anton (Jost Grix) und Lina, das Leben mit seinen Streichen schwer machen würde. So kann es schon mal vorkommen, dass Anton in eine von Michel aufgestellte Mausefalle tritt oder Lina daran gehindert wird, mit ihrem geliebten Alfred ungestört zu sein. Doch eigentlich meint Michel es nicht böse: Seine Mutter Alma (Ragna Guderian) schreibt in ihr Tagebuch, dass Michel sein Herz am richtigen Fleck habe, und Knecht Alfred ist sowieso auf der Seite seines besten Freundes. Und auch wenn Michel mal mit dem Kopf in der Suppenschüssel festhängt oder seine Schwester Klein-Ida (Anna Döing) am Fahnenmast hochzieht, damit sie eine bessere Aussicht hat – meist geschieht dies ohne böse Hintergedanken. Denn der kluge Michel erklärt Klein-Ida, als er wieder mal zur Strafe in den Tischlerschuppen eingesperrt wird: Streiche plant man nicht, man macht sie einfach. Und dass sie Unfug sind, erkennt man erst hinterher.
Der zeitlose Michel
Regisseurin Katja Lauken und Dramaturg Justus von Verschuer verzichten auf Modernisierungen und vertrauen auf die Zeitlosigkeit von Astrid Lindgrens Geschichten. Und diese Rechnung geht auf: Auch wenn Kinder des 21. Jahrhunderts wohl eher selten im Schuppen Holzmännchen schnitzen und am Dorfteich angeln – über Michels Streiche und Tollpatschigkeit kann auch heute noch gelacht werden, und wenn Michel seinen besten Freund Alfred wegen einer lebensgefährlichen Blutvergiftung mit dem Schlitten durch den Schneesturm zum Doktor manövriert, wird auch heute noch mitgefiebert. Dabei werden dem Publikum bekannte Motive vorgesetzt: Vater Antons Ausruf „Mi-i-ichel!“ und die Jagd um den Holzschuppen kennt man aus den Büchern und dem Fernsehen und auch die Abenteuer auf dem Bochumer Katthult-Hof sind sehr getreu der Lindgren’schen Vorlage entnommen. Selbst der kluge Einfall, Mutter Alma kurz als Erzählerin auftreten zu lassen, während die anderen Figuren in amüsanten Zeitlupenbewegungen über die Bühne „rennen“, ist der literarischen Grundlage geschuldet und steigert die Spannung.
Zwischen Streichen und Heldentaten
So spritzig, energisch und trotz aller Originaltreue wunderbar skurril der erste Akt noch ist (beim Angeln hängen die Fische mit Weihnachtsmützen vom Himmel, die Hühner sitzen wie Michel und seine Eltern im Wartezimmer des Doktors), so düster zeigt sich das Wintermärchen nach der Pause: Zusammen mit einigen Småländern und der Dorf-Lehrerin (in einer Doppelrolle: Ragna Guderian) im seltsam unpassenden futuristischen Skianzug (Kostüme: Yvette Schuster) veranstalten Michel und seine Lieben eine Schneeballschlacht, die jedoch nicht mehr die Leichtigkeit aus der ersten Hälfte erkennen lässt. Das anschließende Gruselmärchen Krösa-Majas (in einer Doppelrolle: Anna Döing) und Alfreds durch einen Schnitt zugezogene Blutvergiftung tragen ebenfalls zur unheilvollen Stimmung bei. Doch nachdem Michel den Schneesturm bezwungen hat, Alfred vom Arzt behandelt wurde und wir als Publikum gemeinsam Michel wieder nach Lönneberga zurückgerufen haben, endet doch alles im Happy End, bei dem Michel als Held dasteht und selbst Vater Anton stolz auf seinen Lausebengel ist.
Rollende Schweine und musizierende Hähne
Ja, hier geht es wild zur Sache. Die Möglichkeiten der Bühne (Maren Geers) werden gut ausgeschöpft – aus der Unterbühne wird eine Arztpraxis gezaubert, die Schweine und die Ente fahren auf Rollbrettern herum und der Kunstschneesturm saust Michel und Alfred sehr realistisch um die Ohren. Und auch die Ensembleleistung trägt zur energischen Stimmung des Theaterausflugs bei: Torsten Flassig mimt einen tollen frechen Michel mit großartiger Körperlichkeit, Matthias Redlhammer spielt Knecht Alfred wunderbar trocken und Minna Wündrich brilliert sowohl als herrlich naive und patzige Lina als auch als versnobte Frau Petrell in grell-pinker Abendrobe und mit Heißhunger auf die Würste aus Lönneberga. Ein Gefühl fürs Timing ist nicht nur bei den Menschen in Lönneberga zu bewundern: Die musizierenden Hähne (Musiker: Torsten Kindermann und Oliver Siegel) heizen an vielen Instrumenten ein, untermalen mal dezent, mal wuchtig und immer wieder motivisch die Bühnenhandlung und sorgen für einige tierische Lacher. Auch die Bandbreite der Umsetzung ist enorm: Mal bereiten Michel und Co. das Mittagessen vor und lassen die Teller und Löffel à la STOMP im Takt erklingen, mal werden Gläser zum Schwingen gebracht, um Michels Balanceakt auf dem Steg zum Würsteschuppen eine weitere Spannungsebene hinzuzufügen. Auch der Kanon und Gigue in D-Dur von Pachelbel, der von der Festgesellschaft in freudiger Erwartung auf das Sonntagsessen gesummt wird, lässt das Musiker-Ohr höher pulsieren und entschädigt dafür, dass während des gesamten Theaterstücks nur zwei Lieder gesungen werden: Alfred und Michel bestärken gesanglich ihre Freundschaft beim Angeln und der ganze Katthult-Hof besingt am Ende Michels Mut und seinen Eigensinn. Dass dafür der Schundersong der Ärzte für die Melodie herhalten darf, lässt zumindest einige Kinder der 1990er im Zuschauersaal schmunzeln, doch auch ohne diese Wiedererkennung garantiert die letzte Szene einen Ohrwurm, den bestimmt noch viele strahlende Kinder auf dem Nachhauseweg summen.
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