Wolfgang Herrndorf starb im August 2013. Wenige Wochen vor seinem Tod gab er das Fragment Isa zur Veröffentlichung frei, das nun unter dem Titel Bilder deiner großen Liebe erschienen ist. Der unvollendete Roman erzählt, was die Ausreißerin Isa erlebt, bevor sie auf Andrej Tschichatschow und Maik Klingenberg trifft – der Text ist aber kein bloßes Tschick-Spin-Off, sondern eine literarische Supernova.
von LINA BRÜNIG
Isa haut aus der Psychiatrie ab, wandert durch die Gegend und trifft dabei allerlei schräge Typen – mehr muss über die Handlung von Bilder deiner großen Liebe eigentlich nicht gesagt werden. Allerdings hat man es hier nicht – wie bei Tschick – mit einer straight durchkonzipierten Road Novel zu tun. Herrndorf hat frei flottierende Geschichtenteilchen zu einem Ganzen zusammengefügt, das gerade durch seine Uneindeutigkeit bezaubert. Die Zeitsprünge und Inkongruenzen mögen dem Gesundheitszustand des Autoren geschuldet sein, doch in Verbindung mit der mal feinsinnigen, mal expressiven, mal schnoddrigen Erzählerin Isa entfaltet der Text eine sehr eigene Qualität. Diese erinnert über weite Strecken eher an eine Traumlogik als an eine Erzählung aus der sogenannten Realität: Isa diskutiert mit einem taubstummen Jungen, mäht einem Schriftsteller den Rasen und lässt sich durch nichts auf ihrer Reise aufhalten.
Wie durch ein Wunder
Wolfgang Herrndorf notierte am 15. März 2012 in seinem Blog Arbeit und Struktur: „Recherche. Unter den Brücken von Helmut Käutner.“ Nun kommt einem dieser beiläufige Verweis wieder in den Sinn – wenn Isa auf dem Kahn eines Binnenschiffers mitschippert und sich dabei wunderschön absurde Gespräche entwickeln. Aber auch über die Motivebene hinaus haben Käutners Film und Herrndorfs Roman fast unheimliche Gemeinsamkeiten. Unter den Brücken ist eine zeitlose Geschichte über Liebe und Freundschaft – die im Sommer 1944 unter den widrigsten Umständen in Berlin und Umgebung realisiert wurde. Manche Drehorte wurden kurz nachdem die Filmcrew abgezogen war, von Bomben zerstört. Im übertragenen Sinne gilt für Bilder deiner großen Liebe etwas sehr Ähnliches: Der Text entstand in einer für den Autor mehr als prekären Situation. Der Hirntumor machte ihm das Verfassen komplexer Texte zunehmend schwerer, sodass er auf die Figur Isa zurückgriff: „Mit etwas Rumprobieren einen Ton gefunden, schreibt sich wie von selbst. Und praktisch: Kein Aufbau. Man kann Szene an Szene stricken, irgendwo einbauen, irgendwo streichen, irgendwo aufhören.“
Von guten Mächten
Und so ist Isa ein sehr unmittelbares Stück Literatur geworden, ein Text von jemandem, der es nicht darauf anlegt, jemandem zu gefallen, und der niemandem etwas schuldig ist. Dass Herrndorf ein Großer war, steht außer Frage – das, was er hier „wie von selbst“ geschrieben hat, bringen die meisten auch mit der größten Anstrengung nicht zustande. Herrndorf war immer ein entschiedener Gegner von transzendenter Überhöhung, aber dieser Text wirkt, als käme er aus einer Zwischenwelt – einem Ort, nicht mehr ganz Leben und noch nicht der Tod. Isa mag für Herrndorf auch eine Selbstvergewisserung gewesen sein; sie bewegt sich durch unbekanntes Terrain, stolpert über eine Leiche und kommt vom Weg ab – und ist doch nie wirklich verloren. Ihr scheinbares Verrücktsein drückt sich in einem Gefühl der Verbundenheit mit der ganzen Welt aus, dem Gefühl, dass einem eigentlich nichts passieren kann. Es ist ein friedliches Gefühl, das Herrndorf dem Leser in diesem letzten Text schenkt. So friedlich, dass man – wie Isa – für einen kurzen Moment denkt, man hätte etwas verstanden:
„In einem Moment, denkt man, man hat es. Dann denkt man wieder, man hat es nicht. Und wenn man diesen Gedanken zu Ende denken will, dreht er sich unendlich im Kreis, und wenn man aus dieser unendlichen Schleife nicht mehr rauskommt, ist man wieder verrückt. Weil man etwas verstanden hat.“
Wolfgang Herrndorf: Bilder deiner großen Liebe. Ein unvollendeter Roman.
Rowohlt Berlin, 144 Seiten
Preis: 16,95 €
ISBN: 978-3-87134-791-7
hab es gekauft und es eingeschweißt ins regal gestellt. irgendwie kriege ich es nicht auf, weil man weiß, warum es zu ende geht… und trotzdem. ich konnte es nicht nicht kaufen.