Das Herz der Vereinigten Staaten schlägt in den Tiefen seiner Wälder. Halt! – Es ist das Herz Amerikas. Der Unterschied spielt in T.C. Boyles neuem Roman Hart auf Hart eine zentrale Rolle, denn er bestimmt die Beziehungen der Figuren – eines Vietnam-Veterans und seiner Frau, deren Sohn Adam und dessen Geliebter Sara – in jeder Hinsicht. Zu- und Abneigung drehen und wenden sich um die Frage danach, was denn dieses Land ist, wem es gehört und wie man sich entsprechend patriotisch darin bewegt. Der Wald wird dabei zum Schauplatz einer spannenden Verhandlung über Freiheit und Gemeinschaft innerhalb einer Nation, in der das Urteil noch nicht gesprochen ist.
von SOLVEJG NITZKE
Die Segnungen der Freiheit zu sichern („Blessings of Liberty“), so heißt es in der Präambel der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, ist eines der grundlegenden Ziele der Gründungsväter der Nation. Nun ist interessant – und nebenbei so häufig zitiert wie sonst wohl kaum eine andere Phrase der amerikanischen Geschichte –, dass die Gründungsväter, so zentral sie für die Entstehung des Dokuments und das Selbstverständnis der Nation sein mögen, nicht als Verfasser ausgewiesen sind, sondern das Volk. Das berühmte „We the people“, mit dem die Verfassung eröffnet wird, bildet den zentralen Bezugspunkt jeder Anspielung auf die Verfassung und damit auch den von Sten, Sara und Adam, wenn sie in Hart auf Hart ihre unterschiedlichen Auffassungen davon, was Amerika ist und welche Form von Freiheit die Verfassung zu garantieren hat, im wahrsten Sinne des Wortes ausleben.
Der Kalifornische/Amerikanische Traum
Sten Stensen, Vietnamveteran, pensionierter Schulleiter und Familienvater, ist mit seinen 70 Jahren ein Idealbild amerikanischer Männlichkeit. Nicht nur hat er es zu etwas gebracht, er ist auch jetzt im stattlichen Alter nicht müde oder gar „weich“ geworden, sondern bleibt in die „Community“ involviert. Zu Hause, im Norden Kaliforniens, durchstreift er die Wälder, um illegale Drogenplantagen zu melden und damit seinen Teil dazu beizutragen, dass die heimische Natur erhalten bleibt, und versteht sich auch sonst als umweltbewusster, freiheitlich eingestellter Mensch, dessen größtes Problem die Langeweile des Rentnerdaseins zu sein scheint. Diese Langeweile wird allzu schnell durchbrochen, als er und seine Frau und eine Gruppe Touristen während eines Ausflugs in Costa Rica überfallen werden. Der Ex-Marine reagiert und rettet die Gruppe, indem er einen der Räuber mit bloßen Händen erwürgt. Der Fall scheint klar, denn Sten hat gehandelt wie ein Mann, ein echter Amerikaner, ein Held und zudem noch in Notwehr. Doch ganz so einfach ist es natürlich nicht, denn nicht nur kollidiert die letztlich brutale Tat mit dem Image des bezopften Pensionärs; sie offenbart auch eine Seite von Sten, die ihn auf eine Weise mit seinem Sohn Adam verbindet, die er lieber nicht wahr haben möchte.
Adam, oder Colter, wie er sich nennen lässt, verachtet alles Weiche – der Wohlstand, die Ökoselbstgerechtigkeit und das vermeintliche Heldentum seines Vaters stehen dabei ganz oben auf seiner Liste. Er will mit dieser von den „eigentlichen Werten“ entfremdeten Version des Amerikanischen Traums nichts zu tun haben. Seine Vorbilder stammen vielmehr aus der Zeit vor der gemütlichen Verfassung, als Amerika noch ein wildes Land war und die Männer, die in ihm lebten, aus anderem Holz geschnitzt waren. Seinem Idol John Colter nacheifernd, der als Trapper und Fährtenleser mit Lewis und Clark den amerikanischen Westen (je nach Perspektive) erkundete bzw. eroberte, zieht Adam sich mehr und mehr in den Wald zurück, in dem er sich vor seinen Feinden (Mexikanern, Chinesen, Aliens) versteckt und das Leben eines Waldläufers zu leben versucht. Doch noch gelingt es ihm nicht, in völliger Unabhängigkeit und absoluter Freiheit zu leben, denn spätestens als er Sara kennenlernt, die ihn mit ihrem weichen Körper ebenso wie mit ihren Kochkünsten bezirzt, verfällt auch er einer Form von Sesshaftigkeit, die ihn schließlich jedoch, wie sonst nichts, radikalisiert.
„Unser Wald gehört uns“
Die drei Figuren, deren Perspektiven den Roman strukturieren – Sten, Sara und Adam –, lassen sich als demografische, charakterliche und physische Verkörperungen oder, wenn man so will, Verhärtungen verschiedener Versionen von Patriotismus verstehen. Während es für Sten eines Angriffs bzw. einer konkreten Bedrohung bedarf, um einen (Selbst-)Verteidigungsmechanismus auszulösen, der ihn in seiner Rohheit selbst erschreckt, sind Sara und Adam in ihrer gemeinsamen Ablehnung der Union, der Regierung und „denen da Oben“ in einer Art permanenten Verteidigungshaltung gefangen. Anders als Sara, die als „souveräne Bürgerin“ eine Form passiven und vor allem gewaltlosen Widerstands übt, befindet sich Adam im permanenten Kriegszustand. Dabei ist seine psychische Labilität jedoch, wie Sara zeigt, nicht der alleinige Grund für seine Verfolgungsangst. In gewisser Weise stellt sie eine extremistische Variante der sich bedroht fühlenden Bürger dar, die z. B. die Gruppe „Unser Wald gehört uns“ formieren, um sich gegen „die Mexikaner“ zu wehren, die den Wald durch illegale Machenschaften angeblich in eine „Todeszone“ verwandeln.
T.C. Boyle gelingt es wieder einmal, die Verwirrungen der Figuren wie der Probleme, die sie mit ihrem Verständnis von Heimat, Land, Natur und Nation haben, anhand einer spannenden und durchaus komplexen Konstellation zu beleuchten. Dabei greift er mit Waldläufern, Veteranen und souveränen Bürgern, Verschwörungstheoretikern, Paranoiden und Amokläufern Figuren auf, die den Amerikanischen Traum von seinen guten wie schlechten Seiten zeigen und vor allem deutlich machen, wie eng diese mit dem (Wald-)Boden der Nation verknüpft werden. Nicht nur für Amerikaner und solche, die es werden wollen, ist die Lektüre dieses Buches uneingeschränkt zu empfehlen, denn es greift tief Mythen von Freiheit und Ortsverbundenheit auf, die auch außerhalb des US-amerikanischen Kulturraums von unbestreitbar weitreichender Bedeutung sind.
T.C. Boyle: Hart auf Hart
Carl Hanser Verlag, 400 Seiten
Preis: 22,90 €
ISBN: 978-3446247376
Interessant ist ja auch, dass die deutsche Übersetzung noch vor der englischen erscheint..