Auch Helden haben mal Angst…

Gabriel Chevallier - Heldenangst   Cover: Nagel & KimcheEin fast schon vergessener Erlebnisbericht über den Ersten Weltkrieg feiert in Frankreich sein großes Comeback. Gabriel Chevalliers Heldenangst wurde Ende der 1930er Jahre aufgrund seiner schonungslosen Direktheit und des bevorstehenden Krieges zurückgezogen. Nun ist der beeindruckende Text erstmals in deutscher Übersetzung erhältlich.

von LISA GLÖCKNER

Vor nunmehr über 100 Jahren begann der Erste Weltkrieg und mit diesem das bis dato größte Kampfgeschehen. Viele Beteiligte verarbeiteten ihre Erlebnisse in Aufzeichnungen, Tagebüchern, Zeichnungen oder Briefen – so auch der Infanterist Gabriel Chevallier. Er kämpfte in vielen Schlachten: in den Vogesen, im Aisne, der Champagne, der Chemin des Dames, und sah viele seiner Bekannten fallen. Schonungslos rechnet er in Heldenangst mit der Kriegsmaschinerie und den Menschen ab: „Die Menschen sind dumm und unwissend. Das ist der Ursprung ihres Elends. Statt nachzudenken, glauben sie, was man ihnen erzählt und beibringt.“

Ein Freigeist in den Kriegswirren

Chevallier zögert jedoch nicht, sich seine Fehler einzugestehen und verurteilt sich oftmals in seinem Werk selbst: „Zwanzig Millionen, alle guten Glaubens, alle im Einklang mit Gott und ihren Oberhäuptern … Zwanzig Millionen Dummköpfe … Wie ich! Oder vielmehr, nein, ich habe nicht an diese Pflicht geglaubt. Schon mit neunzehn Jahren glaubte ich nicht, es sei eine Großtat, eine Waffe in den Bauch eines Mannes zu stoßen und sich über seinen Tod zu freuen. Aber ich bin trotzdem hingegangen. Weil es schwierig gewesen wäre, anders zu handeln? Das ist nicht der wahre Grund, und ich darf mich nicht besser machen, als ich bin. Ich bin gegen meine Überzeugung mitgegangen, aber dennoch absolut freiwillig – nicht um mich zu schlagen, sondern aus Neugier: um zuzusehen.“ Dieses Zusehen wird besonders in seinem Erzählstil deutlich. Er schildert seine Erlebnisse aus der Sicht eines Alter Ego, dem Soldaten Jean Dartemont. Als Meldegänger und Kartierer tätig, hat er eine beobachtende und aufzeichnende Funktion, die scheinbar mit der Erzählstruktur seiner Erlebnisse verschmilzt. Nicht selten hat der Leser den Eindruck, dass Dartemont nur ein Beobachter ist, der sich in den Kriegswirren verirrt zu haben scheint. Er benimmt sich manchmal wie ein Sonderling, denkt über verschiedene Situationen des Tötens nach und entfernt sich oft einige Meter von seiner Truppe, um in Ruhe nachzudenken. Obwohl das Einengen des Individuums seinen freiheitsliebenden Gedanken widerspricht, meldet er sich als Offiziersanwärter, in der Hoffnung, durch die damit verbundene Verantwortung seine Aufgabe interessanter zu gestalten. Aussichtslos auf eine Beförderung, da seine guten schriftlichen Leistungen nicht gewertet wurden, beschließt er trotzig, einfacher Soldat zu bleiben.

Verwundet und auf Heimaturlaub

In einer Großoffensive wird Dartemont gleich mehrfach verwundet, voller Angst schaut er nicht an sich herunter, befürchtet nur noch auf Beinstümpfen zu laufen. Sein Überlebenswille rettet ihn schließlich. Über drei Stunden und am Ende seiner Kräfte durchläuft er Grabenlabyrinthe – immer auf der Suche nach einer Sanitätsstation. Im Krankenhaus angekommen, macht er Bekanntschaft mit einem weiteren Kriegsopfer Charlet, einen vorm Krieg herausragenden Studenten. Dessen Aufgabe Bettpfannenleeren. Sein Spitzname „Caca“. Ein ausgelaugter Mann, verschickt verzweifelt mit Eiter infizierte Verbände an die Front, um Freunde vor Kampfeinsätzen zu bewahren. Er wird verrückt, zwingt Dartemont, an ihm zu riechen und schreit: „Ich bin Scheiße.“

Auf Leben und Tod

Körperlich geheilt kehrt Dartemont an die Front zurück und durchlebt Schreckliches: Am Gesicht getroffen, durchfährt ihn panische Angst. Doch es sind nur die Fleischlappen des von einer Granate zerfetzten Nebenmannes. Nach diesem Erlebnis meldet er sich dennoch zum Schutz eines anderen Soldaten freiwillig zu einer Mission – nicht wegen der Aussicht auf Beförderung, die sein Vater herbeisehnt, sondern aufgrund seiner Entscheidung, dem Tod ins Auge zu sehen. Er verdrängt seine Angst, um Verantwortung für sein Sterben zu übernehmen. Doch allzu oft holt die Angst ihn ein. Gepeinigt von Darmkoliken gerät er auf der Latrine mehrmals unter Beschuss und fürchtet sich fortan so sehr davor, dass er lieber heimlich in eine Flasche uriniert.

Die Angst als ständiger Begleiter

Der Titel der Originalausgabe ist La Peur (die Angst). Und tatsächlich könnte dieses Gefühl ein weiterer Protagonist dieses Werkes sein. Die Angst ist immer da, auch wenn die Soldaten in ruhigen Frontabschnitten liegen. Sie begleitet die Männer wie ein Schatten. Außergewöhnlich ist Dartemonts Eingeständnis, selbst Angst zu haben und sie nicht nur seinen Kameraden zuzuschieben, wie dies in anderen Kriegsromanen, wie z. B. in Ernst Jüngers In Stahlgewittern geschehen ist. So ist der Titel der deutschen Übersetzung Heldenangst doch sehr zutreffend und gleichzeitig paradox, da von einem Helden, den die Soldaten verkörpern sollten, keine Angst erwartet wird.

Ein sehr lohnenswertes Werk, das nicht nur die Brutalität des Krieges, sondern insbesondere die Gefühlswelt der Soldaten einfängt.

Gabriel Chevallier: Heldenangst
Nagel & Kimche, 432 Seiten
Preis: 24,90 Euro
ISBN: 978-3312004416  

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