„Die Götter rufen noch immer, aber wir haben aufgehört, ihnen zu lauschen“, verkünden die amerikanischen Philosophen Hubert Dreyfus und Sean Dorrance Kelly programmatisch in ihrem Gemeinschaftswerk Alles, was leuchtet. In ihrer Darstellung der verborgenen Geschichte des Abendlands erscheint große Literatur als der Versuch, das Heilige ins 21. Jahrhundert hinüberzuretten.
von BERNHARD STRICKER
Vielversprechend und verheißungsvoll oder auch naiv und vermessen kann der Untertitel von Alles, was leuchtet anmuten: „Wie große Literatur den Sinn des Lebens erklärt“. Gleich zwei provokante ,Reizwörter‘ für den avancierten Adepten literaturtheoretischer Raffinessen finden sich hier: Da wäre zum einen die „große Literatur“ – ganz unverhohlen scheint hier einem obsoleten Kanon künstlerischer Meisterwerke gehuldigt zu werden, während doch der Trend zeitgenössischer Literatur- und Kulturforschung immer mehr dahin tendiert, den kleinen, ,minoritären‘, vergessenen und vernachlässigten, trivialen und zu Unrecht trivialisierten Literaturen sowie populärkulturellen Phänomenen jeder Art einen Stellenwert zuzuweisen, der sich längst nicht mehr entlang einer vertikalen Achse und allein nach dem Maßstab ästhetischer Qualitäten bemessen lässt. Zum anderen lässt wohl die Rede vom „Sinn des Lebens“ jedem Philosophiestudenten ab dem 2. Semester einen Schauer den Rücken herunter laufen. War nicht die Verabschiedung der Kategorie des Sinns geradezu das Schibboleth postmoderner Theoriebildung und ein nur um den Preis der Unzeitgemäßheit noch hintergehbarer common sense? Man mag sich also fragen: Meinen die das ernst? Immerhin hat der in Berkeley lehrende Hubert Dreyfus sich einen Ruf als Autor des legendären Foucault-Buches Beyond Structuralism and Hermeneutics (1983, mit Paul Rabinow) sowie als Heidegger-Kenner und Kritiker der Künstliche-Intelligenz-Forschung gemacht (What Computers can’t do, 1972), während sein Schüler und Co-Autor Sean Dorrance Kelly als Phänomenologie-Spezialist in Harvard lehrt.
Unser Gegenwartsnihilismus
Am Anfang des Buches steht eine Diagnose: Unser Leben im beginnenden 21. Jahrhundert ist von einer tiefgreifenden Ungewissheit geprägt, die durch die Vielzahl der Wahlmöglichkeiten, die uns ständig und andauernd Entscheidungen abfordern, nur verstärkt wird. Wir alle sind Nachfahren Dostojewskis und Nietzsches, für die gilt: „Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt.“ Dieser existenziellen Verunsicherung etwas entgegenzusetzen, ist der erklärte Anspruch von Alles, was leuchtet. Dazu wählen die Autoren eingangs einen ganz alltäglichen Helden, den „Subway Hero“ Wesley Autrey (http://news.bbc.co.uk/2/hi/6231971.stm), der am 2. Januar 2007 mit seiner Geistesgegenwart und einem Sprung auf die Schienen vor eine fahrende U-Bahn einem New Yorker Mitbürger das Leben rettete. Autreys Behauptung, er habe ganz spontan gehandelt, ohne zu überlegen, beinahe unwillkürlich, nehmen Dreyfus und Kelly zum Modell bei der Frage, woran man sein Handeln in einer derart orientierungslosen Zeit wie der unseren noch ausrichten könne. Die selbstvergessene Empfänglichkeit für die Handlungserfordernisse einer je besonderen Situation heben sie positiv hervor gegenüber den gegensätzlichen Optionen einer zweifelhaften Selbstbehauptung um jeden Preis oder dem Verfallen schwacher Persönlichkeiten an Obsessionen und Abhängigkeiten.
Genie vs. Gnade
Zum Paradigma des verzweifelten Versuchs, dem Sinnlosigkeitsverdacht durch Willensstärke und Selbstdisziplin zu entkommen, küren Dreyfus und Kelly David Foster Wallace. Auch wenn allein schon seine Aufnahme in die illustre Reihe großer Autoren von Homer über Aischylos und Augustinus bis hin zu Dante, Descartes und Melville diesen 2008 durch Suizid verstorbenen Autor ehrt, so wird ihm die Lektüre, die ihm die beiden Philosophen angedeihen lassen, doch kaum gerecht. Vielmehr fungiert er als Beispiel für die Aussichtslosigkeit des Geniegedankens als einer Richtschnur für das Leben und Handeln in unserer Zeit. Das starke Subjekt, wie es die Renaissance und die Erkenntnistheorie seit Descartes hervorgebracht haben, hat abgedankt und muss sich seit Nietzsche als ebenso werte-zeugend wie werte-zersetzend begreifen lernen. Ebenso wenig erfolgsträchtig erscheint in Dreyfus’ und Kellys Augen aber das konkurrierende Modell einer völligen Hingabe des Subjekts an eine ihm äußerliche Macht, die sie mit Luther und der reformatorischen Gnadentheologie identifizieren.
Lob des Polytheismus
Erfolgversprechender als Sinnquelle für unsere Zeit als eine institutionalisierte Religion oder die humanistische Übertragung des Schöpfungsgedankens auf den Menschen erweist sich für Dreyfus und Kelly der Polytheismus der homerischen Epen, wenn man ihn – in einer Weise, die durchaus nicht in Konkurrenz zu einer naturwissenschaftlich-aufgeklärten Weltauffassung zu stehen braucht – als eine Phänomenologie der Stimmungen begreift. In dieser Form, die dazu angetan ist, das Staunen und die Dankbarkeit gegenüber der Welt zu lehren, verhilft er nicht nur dazu, Sportveranstaltungen als säkulares Pendant zum Gottesdienst zu begreifen, er lässt auch die unterschiedlichen kulturellen Seinsweisen, die im Verlauf der Geschichte eine Rolle gespielt haben, alle gleichermaßen zu ihrem Recht kommen. Die Erzählung von der historischen Abfolge dieser Seinsweisen – vom griechischen ,Überall sind Götter‘ über den Aufstieg und Fall des Monotheismus bis hin zur Säkularisierung seit Beginn der Neuzeit – bildet den Hauptteil von Alles, was leuchtet. Mit einer Reihe von durchaus lehrreichen Lektüren, etwa der Divina Commedia Dantes oder Melvilles Moby Dick, versuchen die Autoren, jenes Licht ins Dunkel der abendländischen Geschichte zu bringen, das die Gegenwart wieder zum Leuchten bringen soll.
Odysseus gegen die GPS-Technologie
Noch einmal also: Meinen die das ernst? Diese Frage begleitet den Leser von Alles, was leuchtet bis zum Schluss. Nimmt man das Anliegen des Buches ernst, so stellt es zunächst einmal etwas Beachtliches dar, nämlich den Versuch – der in den akademischen Disziplinen der Literaturwissenschaft oder Philosophie mittlerweile kaum mehr der Beachtung für Wert empfunden wird –, aus literarischen Texten tatsächlich etwas für unser Leben im 21. Jahrhundert zu lernen. Allerdings wird auch die Geduld eines Lesers, der sonst einem Philosophieren, welches das Erbe der Romantik antritt, durchaus Sympathien entgegenbringt, manchmal arg auf die Probe gestellt, und was die New York Times als „Vorboten einer Philosophie der Zukunft“ pries, erscheint streckenweise vielmehr als Neuauflage einer leicht zu datierenden Philosophie der jüngeren Vergangenheit, ohne dass der Name Heideggers dabei genannt würde. So üben Dreyfus und Kelly in vollem Bewusstsein der Gefahr, in die Ecke rechtskonservativer Kulturkritiker abgeschoben zu werden, Kritik an einer technik-verschuldeten Verarmung unserer Lebenswirklichkeit. Dabei erwecken sie gelegentlich den Verdacht, als wollten sie Navigationsgeräte verdammen, weil diese uns Erfahrungen wie diejenigen in der Odyssee ersparen: „Bestenfalls – und wir wollen hier vom besten Fall ausgehen – bringt uns diese Navigationsmethode schnell und problemlos ans Ziel. Aber die noble Form des Navigierens, denken wir an die Seefahrernation der Phönizier oder die Navigatoren im Zeitalter der großen Entdeckungen, wird dadurch völlig trivialisiert. […] Wer mit dem GPS navigiert, verbringt seine Zeit in Bedeutungslosigkeit.“ Es dürfte klar sein, dass auch ohne GPS nicht in jedem von uns ein Christoph Kolumbus stecken würde. Der Punkt, auf den es den Autoren ankommt, ist dabei zwar durchaus interessant, nämlich die Beobachtung, dass handwerkliche (oder andere) Fertigkeiten ein praktisches Wissen um relevante Unterscheidungen in der Welt, in der wir leben, vermitteln, die bei einem bloß theoretischen Zugang zu den Dingen verloren gehen, unsichtbar werden, und so mit zunehmender Undifferenziertheit die Wirklichkeit zusehends uninteressanter erscheinen lassen. Dass ein Ergebnis technologischen Fortschritts in dem Verschwinden früher handlungsleitender und zum Teil (über)lebenswichtiger Unterscheidungen besteht, tut aber der positiven Kehrseite technischer Innovationen keinen Abbruch, die darin besteht, eine größere Zahl von Lebens- und Erfahrungsbereichen einer zusehends größeren Zahl von Menschen zu eröffnen, indem die Schwelle der nötigen Voraussetzungen immer weiter gesenkt wird.
Lesen fürs Leben
Bei einem Buch, das derart leicht lesbar und vergnüglich eine solche Fülle von Ideen an eine breite Leserschaft vermittelt, das aber dabei auch immer wieder Unbehagen auslöst mit seinem ans Klischee grenzenden Pathos der Wiederverzauberung der Welt, fällt eine abschließende Bewertung nicht leicht. Roland Barthes bezeichnete in seiner Vorlesung am Collège de France über Das Neutrum die Literatur als „Instanz, die über die kleinen Unterschiede wacht“ und die lehrt, „gemäß der Nuance [zu] leben“. Diese Fähigkeit, gemäß der Nuance zu leben und damit die Welt und die Dinge in ihr in einer Bedeutsamkeit zu erfahren, die dem Nihilismus standzuhalten vermag, vermittelt nach Meinung von Dreyfus und Kelly auch die Literatur. Der Anspruch, einer breiten Leserschaft dafür die Augen zu öffnen, macht den Wert von Alles, was leuchtet aus, auch wenn die Darstellung in den Augen des Fachmanns bisweilen vielleicht selbst etwas nuancierter ausfallen könnte.